Verschwinden, im Dunkeln
Lesebuch 1963–2002 ; Prosa und Lyrik
Franz Rieger, Alfred Pittertschatscher
ISBN: 978-3-85252-497-9
21 x 15 cm, 262 S., Hardcover
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Kurzbeschreibung
[Hrsg. von Alfred Pittertschatscher]
Katharina oder der Überraschungsangriff
Ich merkte es sofort am Klopfen; die Zaghaftigkeit des Alters hätte auch die Schüchternheit der Jugend sein können, und als der ältere Mann eintrat, wußte ich noch nicht, welche Generation auf mich zukam; im ersten Augenblick erschien er mir zeitlos. Über dem karierten Anzug trug er einen leichten Wollmantel, und die Halbschuhe waren schmutzbespritzt. Den Hut behielt er in der Hand, und sein Gesicht zeigte die alterslose, gespannte Miene, der man dort begegnet, wo das Interesse an sich selbst noch nicht abgestumpft ist. Hochmütig war der Ausdruck, und das Spürende unterstrich der aufgebürstete Bart, der angriffslustig zitterte. Er sah mich starr an, mit einem Blick meine ganze Erscheinung einfangend, die ihm, so schien es, den Zweifel nahm, als der Mund zu zucken aufhörte und ein höfliches Lächeln freiließ, mit dem er sich verbeugte, und ich dachte, jetzt würde er reden, doch er schwieg und sah mich an, und in diesem Augenblick wußte ich, warum der Mann hier war.
Er hatte nichts Alltägliches an sich, wenn man absieht vom Geruch der Kleidung und den schmutzigen Schuhen. Der Geruch erinnerte an einen Musterhaushalt mit ständig eingemotteten Kleidern, der Schmutz der Schuhe an eine Wohnung auf dem Lande, unter Birnbäumen, Alterssitz, den man nur verläßt, um zu erfahren, was einen aus der Ruhe bringt. Er kam vom Lande zu einer Lehrerin auf dem Lande, in einen Ort, in dem er über mich auch das hätte erfahren können, was ich ihm sagte: es ist nicht wahr, nein, ich habe kein Kind von dem Toten, ich bin nicht schwanger, sehen Sie selbst, und eines Tages nimmt ein Mann eine Frau auf der Straße in seinem Wagen mit, zur Bahnstation oder anderswohin, weil sie es eilig hat, was er wiederum nützt und sie zwingt: ja, wir treffen uns, anfangs nächster Woche, hinter dem Gutshof, an der Pferdekoppel; es ist mein Spazierweg, ich spreche mit den Pferden, wenn sie an den Koppelzaun kommen, die Nasen an meiner flachen Hand reiben, die Nüstern blähen, schnauben und mit erhobener Kruppe davonstieben.
Die Erde ist weich in und um die Koppeln, um den Lattenzaun, und ich hatte dreckige Schuhe, weil ich nicht achtgab, und als er zum erstenmal kommen sollte, trug ich ganz leichte Schuhe, die stecken blieben im Morast, worauf ich um Hilfe rief und er mir heraushalf, lächelte und sagte, ich müßte andere Schuhe anziehen, die nicht von den Füßen gingen; ich sagte nichts, weil ich nicht so hilflos war, wie er annahm. Eine Lehrerin in einem Dorf ist tabu, solange sie den Weg geht zwischen Schulhaus und möbiliertem Zimmer, dessen Fenster auf einen Hühnerhof hinausgehen, einen Pack Hefte unterm Arm, mit niedergeschlagenen Augen oder Pferdekoppeln aufsucht und allein ist, bis jemand wagt einzubrechen, die Situation ausnützt: sie schlägt die Augen nieder, weil sie darauf wartet, aus dem scheinbaren Verzicht herausgerissen zu werden, und daß er es erraten hat, bezeugt ihr gebrochener Stolz und das Rendevous an der Pferdekoppel. Sie war überzeugt, daß niemand neugierig ist, wohin sie gehe, weil eine Lehrerin auf diese Art Erholung sucht.
Ich bot dem alten Mann einen Stuhl an, weil er Miene zeigte zu bleiben und in den Pausen des Gesprächs sich nicht rührte und mir mit Augen und Händen, ja mit der ganzen Fläche seines Körpers erwiderte, vielleicht recht gab. Er schwitzte im Mantel. Perlen traten auf seine Stirn. Er ist zu höflich, zu schüchtern oder begierig, alles zu erfahren. – Ich war der Vormund des Toten, sagte er, an Stelle des früh verstorbenen Vaters also und bin jetzt, nach seinem Tode, der einzige Verwandte. – Er will Rechenschaft ablegen für seinen gewaltsam gestorbenen Neffen, dachte ich, und Zeugnis geben von seiner Unbescholtenheit.
Ich ging hinaus zur Pferdekoppel, sagte ich, und er kam nach im Wagen, stellte ihn an der Brücke ab und stieg den Hügel hinauf, von wo aus man zur Koppel hinunter sieht. Der Bach führte viel Wasser, und so hörte ich seine Schritte nicht, und als er herangekommen war, tat ich, als sähe ich ihn nicht. (Später, als ich seine Gewohnheit kannte, unter den Eichen stehen zu bleiben und das Tal zu beobachten, ehe er herabstieg, wußte ich, wie lange er brauchte, um zu mir zu gelangen.)
Ich sah ihn später nur flüchtig an. Ich hatte große Eile, um zum Bahnhof zu kommen. Der Vormittagszug hatte keine Verspätung, und ich hatte mich darauf verlassen. So war ich gezwungen, den Weg von einer Stunde wieder zurück zu gehen, um zu essen und die Zeit bis zum Nachmittagszug hinzubringen. Die Frau, bei der ich wohne, sagte mir, ich könne zu ihr in die Wohnung kommen, ich lehnte ab, und sie sagte mir ausdrücklich, sie sei allein. Sie ist Schneiderin und arbeitet den ganzen Tag, aber das stört mich, wenn ich bei ihr bin, und dieser Stimmung wollte ich entgehen. Ich kochte Kaffee und goß mehrmals die Tasse voll. Ich genoß das Alleinsein und gab mich ihm zu lange hin, denn als ich auf die Uhr sah, war der Zeitpunkt, mich auf den Weg zu machen, fast vorüber.
Auch so könntest du die Sonntage hinbringen, dachte ich, allein und in wohliger Wärme, und ich ging wieder durch das Dorf, durch die sonntäglich ausgestorbenen Gassen, kam in den Wald und trat auf die Anhöhe hinaus, als genieße ich den trüben, kühlen Tag, aber die Anhöhe hinab lief ich, meine Ruhe verflüchtigte sich, Angst, den Zug wieder zu versäumen, trieb mich weiter. Schotter flog, Pfützen spritzten, ich beugte mich über meine Uhr, der Zeiger bewegte sich rasch, ich kam langsam voran, ich lief noch schneller und lachte, es kam mir abenteuerlich vor, auf verlassener Landstraße so zu laufen, als wäre man hinter mir her, ja, hinter mir her sagte ich laut, und in diese sinnlose Fröhlichkeit schnitt das Geräusch des Motors und das Knirschen der Räder, und der Wagen hielt knapp neben mir. Ich ließ dem Mann nicht Zeit auszureden, war schon eingesprungen und schlug die Tür zu. Heftig atmend sagte ich ein paarmal Bahnstation.
Mehr weiß ich nicht, und dann beruhigte ich mich langsam. Er wartete, ich war froh, daß er wartete, dann erwachte ich und hörte, was er sagte. Er mußte es schon gesagt haben, denn ich hörte es am Ton, und daß er lächelte, hörte ich auch.
Sie versäumen bestimmt etwas, wenn Sie so weitermachen.
Ich lachte. Wir kamen schnell voran. Er war ernst geworden. Ich suchte vergeblich sein Lächeln.
Bis morgen früh, das ist kurz. Ist es der Mühe wert fortzufahren?
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