Harry Merl – Vater der Familientherapie
Eine Biografie
Johannes Neuhauser, Harry Merl
ISBN: 978-3-99028-847-4
21 x 15 cm, 112 Seiten, zahlr. vierfärbige Abb., Hardcover m. Schutzumschl.
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Kurzbeschreibung
Harry Merl gilt als der Visionär und Pionier der Familientherapie in Österreich. Seine kreative Methode „Das Gesundheitsbild“ und der damit verbundene „Traum vom gelungenen Selbst“ verhalfen vielen Menschen zu mehr Klarheit und Lebensfreude.
Wenige kennen jedoch Harry Merls dramatischen Lebensweg als verfolgtes jüdisches Kind in den Jahren 1938 bis 1945.
In dieser vielschichtigen Biografie erzählt Univ. Doz. Dr. Merl auch vom Abenteuer Psychotherapie: Von seiner Arbeit als Anstaltspsychiater und wie er schrittweise die Lebensräume der Patienten öffnete, seiner eigenen Psychoanalyse und den atemberaubenden Anfängen der Familientherapie, als sie sozusagen das Laufen lernte.
Rezensionen
Josef Ertl: Der Traum vom gelungenen SelbstJohannes Neuhauser hat eine Biografie über Harry Merl, den Vater der Familientherapie, verfasst
Mit der Reichspogromnacht im November 1938 ändert sich schlagartig alles im Leben des vierjährigen Harry Merl. Seine Eltern werden zur Räumung hunderter verlassener jüdischer Wohnungen zwangsverpflichtet. Der kleine Harry ist ab nun 14 Stunden allein zu Haus. Als die Merls auf der Deportationsliste stehen, gehen sie in den Untergrund. In einem kalten Kohlenkeller erleben sie die Befreiung durch die Alliierten.
Menschen beistehen
Das Erfahrene lässt Harry nicht mehr los. Er wird Psychiater und Psychoanalytiker. Er will Menschen beistehen, die Ähnliches durchgemacht haben. Harry muss sich jedoch bald eingestehen, dass die Möglichkeiten der Psychoanalyse dafür nicht ausreichen. Er entdeckt die aus den USA kommende Familientherapie. Allen Anfeindungen zum Trotz beginnt er in der Linzer Psychiatrie als erster und einziger Therapeut mit Familien zu arbeiten. Univ. Doz. Dr. Merl wird so zum Wegbereiter der systemischen Psychotherapie.
Unterstützung der Familie
Was macht ein gesundes Familienleben aus? „Mir ist klar geworden, dass Menschen die Sehnsucht haben, heranwachsen und etwas schaffen zu können. Ich habe das den Traum vom gelungenen Selbst genannt. Menschen haben ein genaues Bild von sich selbst, wie sie sind, wenn sie gesund sind. Mit diesem Wissen ist es möglich, dass man sich auf die Seele verlassen kann, dass sie jeden Weg sucht, um diesen Traum zu verwirklichen. Und das möglichst mit der Unterstützung der Familie“, erklärte Merl im Interview mit Oberösterreich-KURIER (4.11.2018). „Dabei ist die Liebe das oberste Heilmittel. Im Sinn einer Humanökologie. So wie man miteinander umgeht.“
Auf der Bühne
Der Linzer Therapeut Johannes Neuhauser hat nun eine Biografie mit dem Titel „Harry Merl – Vater der Familientherapie“ verfasst und präsentiert sie am Donnerstag, den 13. Juni um 19.30 Uhr im Linzer Café Traxlmayr. Am 20. Juni wird um 20.30 Uhr das Theaterstück Harry Merl zum letzten Mal in der Linzer Tribüne aufgeführt.
(Josef Ertl, Rezension im Kurier Ausgabe Oberösterreich vom 9. Juni 2019, S. 20)
https://kurier.at/chronik/oberoesterreich/der-traum-vom-gelungenen-selbst/400516141
Christian Pichler: Ein jüdisches Überleben
Biografie über Harry Merl, den „Vater der Familientherapie“
„Jestesmy Zydami!“, rief zwei Mal die Mutter, die ein paar Brocken Polnisch konnte. „Wir sind Juden!“ Ein Rotarmist hatte die verbarrikadierte Tür zum Kohlenkeller aufgebrochen, wo sich die Familie Merl in den letzten Monaten versteckt hielt. Am 6. April 1945 endeten für sie sieben Jahre Verfolgung und drohende Vernichtung.
Harry Merl, der 1934 geborene Sohn, erinnert sich. Bis zuletzt hatten fanatische SS-Männer in Wien Häuser nach Juden durchsucht, Leichen der Ermordeten auf den Straßen. Merl sah: „Ganz oben auf dem Leichenberg lag eine ältere Frau, die noch ein angebissenes Marmeladebrot in ihrer Hand hielt. Dieses Bild will mir bis heute nicht aus dem Kopf gehen.“
Johannes Neuhauser gelingt Überzeugendes. Die szenische Lesung „Harry Merl – Eine Lebensgeschichte“ wurde 2018 zum überragenden Erfolg in der Tribüne Linz, beim verdienstvollen Verlag „Bibliothek der Provinz“ ist diese Biografie nun auch in Buchform erschienen: „Harry Merl. Vater der Familientherapie“. Denn Merl wollte Menschen helfen, so wie der Arzt im Kinderbuch „Dr. Doolittle“ Tieren half. Ab 1968 arbeitete Merl in der Linzer Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg, entwickelte in den folgenden Jahren die systemische Familientherapie.
Dem Linzer Therapeuten Johannes Neuhauser, der den „Harry Merl“ bereits auf die Bühne gehievt hatte, gelingt auch als Buchautor Überzeugendes. Die Biografie nüchtern und unsentimental, dennoch sogar „spannend“ zu lesen, mit reichlich Bildmaterial bestückt. Merls Eltern überlebten die Kriegsjahre, weil sie leerstehende Wohnungen von Juden auszuräumen hatten. Eine endlose Qual, nur diese eine Freude, Harry bekam so den „Dr. Doolittle“ zu lesen. Nach dem Krieg die Eltern traumatisiert, der Sohn suchte vergeblich das Gespräch mit ihnen, eine Wand: „Totschweigen, verdrängen, ja nicht auffallen!“ Ein lebenslanger Konflikt, äußerst schmerzhaft für beide Seiten.
In Texten und Bildern eine Erinnerung an die dunkelste Zeit. Harrys große Kinderliebe Eva, die in Auschwitz ermordet wurde. Später Merls Lebensglück mit seiner Frau Christl und großer Familie, sein Zögern, durch Autor Neuhauser die Lebensgeschichte bekannt zu machen. Merls erste Reaktion war die tief sitzende „jüdische Angst“, als öffentliche Person attackiert zu werden. Dass er am Ende zugesagt hat, freute ihn auch selbst. Der zehnjährigen Hannah, die ihn im Stück als Bub spielt, sagte ein glücklicher Merl nach der Uraufführung: „Du bist mein bestes Ich.“
(Christian Pichler, Rezension im Oberösterreichischen Volksblatt vom 13. Juni 2019, S. 22)
Nora Bruckmüller: Das Wunder Harry Merl
Als eines ganz weniger jüdischer Kinder überlebte Harry Merl die Shoa mitten in Wien. Eine Biografie erzählt, wie er der „Vater der Familientherapie“ wurde.
Kinder systematisch zu töten ist eine der abscheulichsten Gräueltaten, zu denen die Menschheit fähig ist. Harry Merl wäre als Bub in Wien beinahe Opfer einer solchen Verrohung geworden. Als jüdischen Buben definierte ihn die NS-Ideologie als „Fehler“.
Doch Merl war nicht nur eines ganz weniger Kinder, die den Holocaust mitten in der Bundeshauptstadt überlebt hatten, der 84-Jährige schöpfte regelrecht Chancen in kleinsten Freiräumen – innerhalb gewalttätiger, später konservativ-verkrusteter Strukturen.
So entfaltete Harry Merl, der in Gramastetten lebt, auf einem von der Geschichte havarierten Fundament ein erfülltes, dienendes Leben. Heute gilt er international als Pionier der Familientherapie. Ab 1968 prägte er das Linzer Wagner-Jauregg, heute Neuromed Campus, baute dort das Institut für Familientherapie auf und leitete es. Der Psychiater hat fünf Kinder, achtzehn Enkel und sechs Urenkel.
Seine von sozialen Brüchen, seelischen Diskrepanzen und auch Glück geprägte Geschichte hat nun sein langjähriger Weggefährte Johannes Neuhauser – Journalist, Regisseur und selbst Therapeut – mit ihm erarbeitet, mit historischen Fakten angereichert und in biografische Form gebracht.
Was vielleicht zunächst seltsam stimmt, ist, dass Neuhauser schreiberisch dafür die Ich-Form, also Merls Perspektive, gewählt hat. Doch als akribischem Rechercheur und empathischem Vermittler ist dem Linzer darin zu vertrauen, dass er die Gratwanderung zwischen Objektivität und Nähe in aller Redlichkeit gemeistert hat. Letztere basiert auf einem tiefen Verständnis zwischen Autor und Protagonist. Es offenbart sich stark darin, wie Merl die Situation schildert, die ihm letztlich den Mut gegeben hat, nach Jahrzehnten des Zögerns und gegen jede „jüdische Angst“ alles zu erzählen.
Ein Theaterstück und die Folgen
Es war bei der Premiere von Neuhausers dem Buch vorangegangenen Theater „Harry Merl – eine Lebensgeschichte“ in der Tribüne Linz, „wie die tragischen Szenen mir so wirklich erschienen, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte“, schreibt Merl im Nachwort. Offenheit und Vertrauen spiegeln sich im Buch in ungeschönten Einblicken und Eingeständnissen. So ist es eine auf allen Ebenen – auch der sprachlichen – in Klartext gehaltene Bestandsaufnahme geworden, die nie nach verdichteter Verklärung oder verbitterter Abrechnung anmutet. Anlässe hätte es gegeben. So entgingen Merls Eltern den Nazis, indem sie für diese arbeiteten und Wohnungen enteigneter Juden ausräumten. Harry blieb viel allein, fern von institutioneller Bildung, schaffte 1945 dennoch in kürzester Zeit die Schule.
Menschenfreund und Tierretter
„Dr. Dolittle“ war Merls „erstes und bis heute bestes Lehrbuch“. „So wie er die Tiere retten wollte, sollte ich später Menschen in schweren psychischen Krisen helfen“, ist zu lesen. Doch Neuhauser schildert in Merls Namen genauso, wie die Traumata des Krieges eine lang nachwirkende Kluft zwischen Eltern und Kind aufgerissen haben. Wie Merl als junger Mann, dem Jüdischsein beraubt, um Identität rang. Und darum, seine „besondere Aufgabe“ zu erfüllen: weiterzuleben.
Das Schöne ist, dass dies Merl tatsächlich gelungen ist, indem er, auch in seiner Arbeit, das Gegenteil dessen kultivierte, was er als Kind erlebt hatte: Zusammen- statt Alleinsein, Kommunikation statt Schweigen, Liebe statt Hass.
(Nora Bruckmüller, Rezension in den Oberösterreichischen Nachrichten vom 20. Juli 2019)
https://www.nachrichten.at/kultur/literatur/das-wunder-harry-merl;art272,3148717
Uli Jürgens: [Rezension zu: Johannes Neuhauser, „Harry Merl – Vater der Familientherapie“]
Vor 80 Jahren hat der Zweite Weltkrieg begonnen, ein Krieg, der rund 120.000 österreichische Jüdinnen und Juden ins Exil trieb und 65.500 das Leben kostete. Nur ein Bruchteil der jüdischen Bevölkerung überlebte in Wien. Einer von ihnen ist Harry Merl, der Vater der Familientherapie, wie er gerne genannt wird. Über seine Pionierarbeit und seine Erfolge als Psychotherapeut ist schon einiges geschrieben worden, unbekannt war bisher Harry Merls berührende Kindheit während des Nationalsozialismus. Merls Freund, der Autor, Regisseur und ebenfalls Psychotherapeut Johannes Neuhauser hat nun Erinnerungen zusammengetragen, Uli Jürgens hat die Biografie gelesen.
Es ist ein sehr persönliches, ein sehr leises Buch. Haptisch ansprechend, dickes Papier, angenehm anzugreifen. Kurze Kapitel, Erinnerungen, Gedanken und Berichte, kaum eine Seite ohne Bilder. Der Autor, Johannes Neuhauser, greift auf Video- und Tonmaterial zurück, auf private Filmaufnahmen genauso wie auf eigene Gespräche mit Harry Merl. Er hat die Biografie aus der Ich-Perspektive geschrieben, eine gute Entscheidung, schafft dies doch eine ganz besondere Unmittelbarkeit. Harry Merl – auf einem der ersten Fotos mit weißem Hemd und Trägerhose zu sehen, die lockigen Haare kaum gebändigt, der Blick ernst – wird am 11. November 1934 in Wien geboren.
Als ich vier Jahre alt war, bekam ich von den Nazis einen weiteren Vornamen. Ich hieß dann Harry Israel Merl. Zudem bekam ich ein fettes „J“ auf die erste Seite meines Personalausweises und als Draufgabe einen gelben Judenstern.
Es ist vor allem diese kindliche Perspektive, die den ersten Teil des Buches so außergewöhnlich macht. Recht naiv ist der kleine Harry, kann viele Ereignisse nicht zuordnen, versteht die Reaktionen der Erwachsenen nicht. Fassungslos beobachtet er die fortschreitende Ausgrenzung.
Einige unserer Nachbarn kamen einfach in unsere Wohnung, schauten sich um und nahmen wortlos unsere Möbel und fast unseren gesamten Hausrat mit… auch meinen kleinen Kindersessel.
Durch viele Zufälle bleibt die Familie in Wien. Der Vater wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, die Mutter macht die Buchhaltung für einen Nationalsozialisten, später stehen beide Eltern im Dienst der Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo, müssen verwaiste Wohnungen vertriebener Juden räumen. Harry Merl sagt über diesen Abschnitt:
Es war eine Zeit, in der es eigentlich nur Verluste gegeben hat. Verluste von Menschen.
In einer Sammelwohnung ist kaum Platz für den Buben, geschweige denn gibt es die Möglichkeit für Unterricht. Der Vater bring Harry Hugh Loftings Buch „Dr. Dolittle“ mit.
Zitat: Immer und immer wieder las ich das Buch. Es war mein einziges. Bis heute hat Dr. Doolittle eine große Bedeutung für mich. So wie Dr. Dolittle die Tiere retten wollte, sollte ich später Menschen in schweren psychischen Krisen helfen. Dr. Dolittle war mein Lehrbuch. Das erste Lehrbuch und das beste!
Und auch von seiner ersten Liebe erzählt Harry, er ist damals acht Jahre alt. Im August 1942 ist Eva plötzlich nicht mehr da, deportiert nach Theresienstadt, später ermordet in Auschwitz.
Sorge und Trauer, Überforderung der Eltern, Abstumpfung. Ein Großteil der Familie Merl überlebt den Krieg nicht. Harry und seine Eltern verstecken sich die letzten Wochen in einem Kohlenkeller. Nach dem Krieg stürzt sich Harry ins Leben, maturiert mit Auszeichnung, liebt alles Amerikanische, vor allem den Jazz.
Diese Musik wurde zu meinem Lebenselixier. Ich sagte mir immer wieder: Zum Jazz kann man nicht marschieren. Man kann nur tanzen – oder zuhören. Aber marschieren geht nicht!
Viel erzählt Harry Merl auch von Christl. Sie ist seine Gefährtin, Kollegin, Seelenverwandte, Mutter (ihrer) seiner fünf Söhne. Eine große Liebe. Der zweite Teil des Buches ist ganz dem Berufsleben Harry Merls gewidmet, vom Medizinstudium über erste Erfahrungen mit Psychiatriepatienten in Mauer-Öhling bis hin zu seinen neuen Ideen und Ansätzen in der Psychotherapie.
Das Spezifische an der Familientherapie liegt darin, dass man jeden Menschen immer im Zusammenhang mit seinen familiären Beziehungen denkt. Wenn der Mensch sich jetzt verändert, wie wird sich das auf seine Familie auswirken? Wird die Familie es zulassen? [Wird es Schwierigkeiten geben? Wird die Familie davon profitieren?] Das sind die Gedanken, die immer da sind. Denn das ist die Realität. Wo immer wir sind, unsere Familie ist in unserem Kopf mit dabei.
Auch Harry Merls Geschichte gäbe es nicht ohne seine Familie. Alles, was er erlebt hat, hat dorthin geführt, wo er schließlich beruflich landete. Er gibt in diesem Buch viel von sich preis. Ob im vorangestellten, sehr persönlichen Brief an die Eltern oder in den abschließenden Kapiteln, in denen von Glaube und Religion die Rede ist. Man hat dieses Buch schnell gelesen, die Geschichte des Harry Merl bleibt jedoch lange im Gedächtnis.
(Uli Jürgens, Rezension für die ORF Radio Ö1-Sendung „Kontext – Sachbücher und Themen“ vom 20. September 2019, Redaktion: Wolfgang Ritschl)
Andrea Heinz: Vom Leben und vom Überleben
Zeugnis ablegen von dem, was damals geschah: die eindrücklichen Erinnerungen des Psychotherapeuten Harry Merl.
Gerade eben jährte sich die Befreiung des KZ Auschwitz zum 75. Mal. Es wurde aus diesem Anlass nicht nur festgestellt, dass der ideologische, rassische Wahn von damals noch lange nicht überwunden ist. Es wurde bei den Gedenkfeiern auch deutlich, dass es immer weniger Menschen gibt, die noch Zeugnis ablegen können von dem, was damals geschah. Auch von jenen, die die NS-Zeit in Wien überlebt haben, sind nicht mehr viele am Leben. Einer davon ist Harry Merl, geboren 1934, der sich in Johannes Neuhausers Biografie Harry Merl. Vater der Familientherapie erinnert. Zwei Tage vor seinem vierten Geburtstag erlebt er, wie in Wien die Synagogen brennen, es ist die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die Reichspogromnacht.
„Wir waren bei unseren jüdischen Nachbarn, den Steinfelds, zu Besuch und saßen alle vor dem Radio. Draußen war es stockdunkel. Es war eine kalte Novembernacht.“ Angespannt lauschen die Erwachsenen dem Radio, als es an der Tür läutet. „Zwei Männer in SA-Uniform stürmten herein und packten sofort unseren Nachbarn, Herrn Steinfeld. Während die beiden Männer in die Wohnung eindrangen, stürzte mein Vater blitzschnell hinter der Tür hervor und rannte wie ein Wilder davon.“ Die Familie Merl findet sich wenig später am Donaukanal wieder. „Unseren Nachbarn, den Herrn Steinfeld, sah ich nie wieder.“
Eigentlich muss man bei Neuhausers Buch eher von einer Autobiografie sprechen. Selbst systemischer Psychotherapeut, verarbeitete er ausführliche Gespräche mit Merl und seiner Frau Christl zur 2018 in Linz uraufgeführten Theaterproduktion Harry Merl – vom verfolgten jüdischen Kind zum Vater der Familientherapie. Nach weiteren Gesprächen hat er diese Erinnerungen nun aufgezeichnet. In Merls eigenen, oft kindlich anmutenden Worten erzählt Neuhausers Biografie, wie aus dem Wiener Buben Harry der langjährige Leiter des Instituts für Psychotherapie an der OÖ Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg (dem heutigen Neuromed-Campus des Kepler-Universitätsklinikums) und Träger des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich Univ.Doz. Dr. Harry Merl wurde.
Mit der Psychoanalyse kam er bereits früh in Berührung, schon vor der Maturazeit stieß er auf Freuds Neue Vorlesungen zur Psychoanalyse, die er gebannt las. „Das war der Anfang meiner Begeisterung für Menschen und ihre Lebensschicksale.“ Und, so der Nachsatz: „Natürlich wollte ich auch meine depressiven Eltern besser verstehen können.“ Er und seine Eltern hatten die NS-Zeit zwar überlebt, doch besonders seine Eltern waren schwer traumatisiert. „Sobald jemand nur etwas länger auf die Klingel drückte, zuckten sie erschreckt zusammen. Sie wollten auch auf keinen Fall als Juden erkannt werden. Sie waren so deprimiert, dass sie sich sogar schämten, Juden zu sein. Totschweigen, verdrängen, ja nicht auffallen!“
Merls Erinnerungen sind ein Dokument dafür, wie der konkrete Alltag in Wien nach dem sogenannten „Anschluss“ aussah. Dafür, wie und unter welchen Widersprüchen, durch welche enorme Selbstverleugnung es Juden und Jüdinnen möglich war, zu überleben. Seine Eltern, Willy und Sabine Merl, räumten für die „Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo“ verwaiste jüdische Wohnungen. Diese Tätigkeit rettete ihnen vermutlich das Leben – muss jedoch eine enorme seelische Belastung gewesen sein. Eine Last, die auch das Kind Harry spürte, das den ganzen Tag allein zu Hause auf seine Eltern wartete. „Mir war bewusst, dass in Europa Krieg herrschte“, erinnert Merl sich. „Aber darüber wurde nie mit mir gesprochen.“
Über weite Strecken handelt das Buch auch von Merls Verdiensten für die Familientherapie. Wobei der etwas großtuerische Untertitel des Buches irreführend ist. Merl hat die Familientherapie nicht erfunden, er ist, wenn, dann der Vater der Familientherapie in Österreich. Der Titel tut ihm keinen Gefallen, im Gegenteil: Er macht ihn klein. Denn Merl hätte solche Lobhudelei gar nicht nötig. In den frühen Siebzigerjahren entdeckte er, dass die klassische therapeutische Arbeit bei vielen seiner Psychiatriepatienten an ihre Grenzen stieß. Er begann, sich „ganz auf die Klienten und ihr Umfeld“ einzulassen, stellte fest: „Man muss Anstöße geben, wodurch Bewegung hineinkommt, indem Leben wirklich wieder aktiviert wird und nicht nur darüber geredet wird.“ Zu diesem Zeitpunkt gab es, vor allem in den USA, bereits Therapeutinnen und Therapeuten, die mit Familien arbeiteten, prominent zum Beispiel Virginia Satir, die ihrerseits als „Mutter der Familientherapie“ bezeichnet wird. Unter anderem mit ihren Arbeiten setzte Merl sich intensiv auseinander und brachte die Familientherapie, anfangs gegen große Widerstände, nach Österreich, etablierte sie hier und führte sie durch eigene Methoden fort.
Spannend und aufschlussreich ist, was Merl über die Therapiearbeit mit konkreten Familien erzählt, ebenso wie über die „Anstaltspsychiatrie“ in den 1960er-/1970er-Jahren. Wirklich besonders und lesenswert machen das Buch aber vor allem die eindrücklichen Erinnerungen an das (Über-)Leben eines jüdischen Kindes in Wien.
(Andrea Heinz, Rezension im Standard-Album vom 1. Februar 2020, S. A5)