Vom Sankt-Stephansturme
[Aus dem alten Wien]
Adalbert Stifter
ISBN: 978-3-85252-093-3
21 x 15 cm, 42 S.
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Kurzbeschreibung
Vom Sankt-Stephansturme
Diese Worte sind eigentlich falsch, wie die Worte falsch waren, die wir lange in einem der schmalen Gäßchen Wiens lasen: »Dürrer Obsthändler«; denn weder wollte man den Obsthändler als dürr noch den Turm als heilig bezeichnen man sollte sagen:
»Vom Turm der Kirche des heiligen Stephan«, aber die Wiener sagen hartnäckig: »Sankt-Stephansturm« oder noch häufiger: »Stephansturm«, und da ich ein übler Feind vom Abbringen guter alter Bräuche bin, so will ich bis zu meinem Lebensende sagen: »Der Stephansturm«. Wenn man Wien von einer Anhöhe aus betrachtet, deren mehrere in ganz geeigneter Entfernung liegen, so zeigt sich die Stephanskirche gewissermaßen als Schwerpunkt, um welchen sich die Scheibe der Stadt lagert. Und an der Kirche ist wieder der Turm der Zeiger ihrer Majestät; denn denkt man ihn weg, so könnte die Kirche auch irgendein ansehnliches Stadthaus oder ein hervorragendes Schloß sein. Er gibt ihr ihre Bedeutung. Wenn man in großen Entfernungen ist, in denen man weder die Stadt noch die Kirche erblicken kann, so ragt doch er wie ein blauer Schatten oder wie eine matte Linie oder wie eine dämmerige Pappel empor.
Denen, die auf den Ebenen von Ungarn daherkommen, steht er lange wie ein Meilenzeiger vor dem Angesichte, der allgemach riesenhaft emporwächst, wie man ihm Stunde nach Stunde entgegenfährt. Die Pappel ist er, wenn man sich Wien donauabwärts nähert. Da ist eine Stelle, von welcher man eine graue Pappel unter grünen stehen sieht. Sie unterscheidet sich von ihnen anfangs nur durch die Farbe und später auch dadurch, daß die grünen Pappeln deutlicher werden und beim Vorüberfahren zurückweichen, während die graue wieder in der Ferne steht und die nämliche zarte Farbe trägt. So kündet der Turm in Weiten, von denen aus man sonst nichts sehen kann, immer den Platz an, auf welchem die Stadt steht. Wenn ich von Anhöhen Wien betrachtete, so hielt ich den Stephansturm für den Stift, an dem man die Scheibe der Stadt emporheben könnte.
Das Bild ist lächerlich, aber es fiel mir sehr oft ein. Wenn der in Wien Geborene sich in dessen Umgebung befindet, sei es, daß er sich als Lustwandelnder irgendwo lagert oder daß er ein Landhaus in der Gegend bewohnet, so richtet er ein Fernrohr auf den Stephansturm und freut sich, wenn er dessen Zieraten sieht oder seines Kaiserreiches Zeichen auf der Spitze erblicken kann oder wenn er gar erkennt, wieviel Uhr es ist. Man sagt den Eingebornen Wiens nach, daß sie Herzweh bekommen, wenn sie den Stephansturm nicht mehr sehen. Man könne ihn auch den Stift eines Sonnenzeigers nennen, zu dem alle Straßen der Umgegend wie die Halbmesser eines Kreises zu ihrem Mittelpunkte zusammenlaufen.
Aber nicht bloß, wenn man sich außerhalb der Stadt befindet, ist der Stephansturm ein Gegenstand des Augenmerkes, er ist es auch für die innerhalb der Umgebungslinien Wiens Wandelnden. Wenn man bei dem gegitterten Holztore irgendeiner der Außenlinien Wiens eingegangen ist und nun in einer der langen und unabsehlichen Gassen der Vorstadt fortschreitet, welche gegen die eigentliche Stadt rühren, so schaut man sorgfältig herum, ob man nicht irgendwo den Stephansturm erblicken kann.
Zuweilen täuscht sich ein Neuangekommener. Die zartgegliederte Spitze des Turmes der gotischen Kirche Maria am Gestade hat entfernte Ähnlichkeit mit einem Stephansturme, und der Unkundige hält sie, wenn er sie allein emporragen sieht, für ihn. Aber wenn er dann durch irgendeine Wendung in seinem Gange plötzlich die mächtigere, schlankere Gestalt in luftblauen Farben emporsteigen sieht, erkennt er seinen Irrtum und wendet sich von dem Afterbilde dem Urbilde zu, auf dessen Spitze der große kaiserliche Adler klein wie eine Fliege ruht. Es gibt mehrere Vorstadtgassen, in denen man den Stephansturm sehr gut sieht.
An vielen Stellen der Gassen, die als Fortsetzung der Straßen von Italien und Ungarn der Stadt zuführen, thront einem dieser erhabene Leitstift gleichsam in Würde und Ernst entgegen. Wenn man in der Jägerzeile der Stadt zugeht, ruht die einfache, edle Last der ganzen Kirche und des Turmes als große Macht und doch als leichtgebildetes Kunstwerk in den Augen des Wandelnden. Es gibt aber auch viele Vorstädte, in deren langen, der Stadt zuführenden Gassen keine Stelle zu finden ist, von welcher man den Stephansturm erblicken könnte.
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