
Romeo und Julia an der Bernauer Strasse
Erzählung
Franz Kain
ISBN: 978-3-85252-419-1
21 x 15 cm, 76 Seiten, Hardcover
15,00 €
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Kurzbeschreibung
Der künstliche Sternenhimmel über dem Tanzparkett des Ballhauses im Norden Berlins blinkte wie sonst; an diesem Wochentag aber waren es nur wenige Paare, die er in rote und blaue Dämmerungen hüllte.
»Ist alles Käse«, sagte eine junge Frau zu ihrem schwarzhaarigen Freund und gähnte dabei. »Dir gefällt's wohl heute?« fragte sie dann spöttisch das junge Mädchen, das an ihrer Seite saß und unschlüssig zum Tanzboden hinübersah.
»Warum nicht?« gab das Mädchen zurück. »Heute ist wenigstens genug Platz zum Tanzen, sonst ist's doch immer nur ein Geschubse.«
Der junge Mann saß zerstreut zwischen den beiden und strich sich nervös über das glatte, peinlich korrekt gescheitelte Haar. Sein Blick streifte zuweilen die Gestalt der Jüngeren, die einen enganliegenden grünen Pullover trug.
»Wie eine Katze ist sie«, dachte er, »wenn ihre Bewegungen auch noch eckig sind.«
Spielte die Kapelle nicht, dann hörte man von der Theke her manchmal ein Kichern; da hatte einer der Gäste, die auf den hohen Hockern saßen, den Mädchen an der Bar etwas Zweideutiges gesagt.
Das Ballhaus, in dem sich in den »langen Nächten« hunderte Menschen tummelten, machte heute einen kahlen Eindruck. Die Galerie, die sonst immer zuerst besetzt war, hatte keinen einzigen Gast. Die Stühle standen in einer so nüchternen Ordnung an den Tischen, als ob eben erst aufgeräumt worden wäre, und die Kellner trugen nur zwei Gläser auf ihren Tabletts. Die Musik wirkte aufdringlich, und die farbigen Papiergirlanden hingen wie müde, welke Blätter an der Brüstung der Galerie. Vergeblich suchte der Kapellmeister, der das Ballhaus auch mit schnurrigen Kommentaren zu unterhalten pflegte, Stimmung in den großen Saal zu bringen.
Gegen Mitternacht brachte er zwar seine tägliche Attraktion – er fragte mit schmalziger Stimme, ob die Damen, so wie es sich gehöre, ihren Kavalieren auch schon sittsam die Schlüssel übergeben hätten, bevor die letzten Tänze kämen –, doch während diese Frage sonst ein übermütiges Geschrei auslöste, hing heute das Lachen, das von den wenigen besetzten Tischen kam, dünn und zerbrechlich, wie verloren in dem großen Saal. Der Kapellmeister des Ballhauses wußte als erfahrener Mann, daß man eine solche Flaute nicht aufpulvern kann, sondern warten muß, bis sie vorüber ist. Er setzte sich ans Klavier und klimperte die Anfangstakte eines Schlagers aus der Großmutterzeit.
In einer Ecke des Tanzsaales saßen an einem kleinen Tischchen drei Betrunkene, die sich bisher nicht bemerkbar gemacht hatten. Jetzt aber fielen sie sofort in das Lied ein, als hätten sie schon den ganzen Abend darauf gewartet.
»Waldesluuust, Waldesluuust, o wie einsam schlägt die Brust … «
Die Jüngere schaute ihre Nachbarin fragend an. Die seufzte ein wenig und sagte, während sie sich erhob: »Jetzt bin ich wieder dran.« Dabei dachte sie: »So ein kleines Biest! Tanzt immer dann, wenn wir allein auf dem Parkett sind, damit sie ja alle Männer sehen.«
Die Betrunkenen gaben ihren Stimmen einen schluchzenden Klang.
»Meinen Vater kenn ich nicht, Meine Mutter will mich nicht. Und sterben kann ich nicht, Bin noch so jung.«
Und während die drei am Tisch in immer wehmütigere Töne versanken, tanzten die beiden Mädchen zu denselben Klängen einen schnellen, wirbelnden Walzer. Die Ältere brauchte ihre Tanzpartnerin kaum zu führen. Die schien ganz hingegeben an diesen seltsamen Rhythmus, ihre Augen glänzten, und sie hatte ein seliges Gesicht.
Auf der anderen Seite der kreisrunden Tanzfläche saß an einem winzigen Tischchen ein junger Mann. Sein Bier hatte längst den Schaum verloren. Er hatte schon eine Stunde lang unablässig die beiden Mädchen und ihren Begleiter beobachtet, die ihm, getrennt nur durch die Tanzfläche, gegenübersaßen.
»Sie ist wie eine Feder«, dachte er, wenn er das Paar an sich vorüberwirbeln sah. Die Tanzenden hatten den Platz ganz für sich allein, und sie maßen ihn aus wie nach einem Zirkelstrich. An einer Stelle hatte sich der Parkettboden geworfen, und die »Scheuerratten«, wie man hier die Tanzbesessenen nennt, sagten, daß man in diesem Ballhaus Wellenreiten könnte. Tanzten die beiden Mädchen über diese Stelle, so schienen sie in die Luft hinauszuschweben. Einmal stieß die Jüngere einen spitzen Schrei des Entzückens aus. Ihr Rock war wie eine Glocke, ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren, und ihre schlanken Beine zogen die Blicke aller Männer an. Sogar die Gäste an der Theke drehten sich dem Tanzboden zu. Das blonde Haar des Mädchens flatterte lustig um den Nacken – ein Bild voller Frische und Fröhlichkeit.
Der Zwanzigjährige begegnete dem Blick des anderen drüben, der mit den Mädchen am Tische saß und jetzt auf ihre Rückkehr wartete. Ein leiser Spott lag in diesen Augenwinkeln. »Mach nur Kulleraugen!« sagte der Blick, »sie sitzt an meinem Tisch.«
Nur die Betrunkenen hatten für die tanzenden Mädchen kein Auge. Sie sangen in einer beträchtlichen, heiseren Lautstärke:
»Wenn ich einst gestorben bin, Tragt mich zum Friedhof hin, Deckt mich mit Erde zu, Dann hab ich Ruh.« …