Großvaters Geschichten
Ein Leben im Mostviertel
Toni Distelberger
ISBN: 978-3-99028-235-9
19×12 cm, 264 Seiten, Klappenbroschur
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Kurzbeschreibung
Was habe ich von einem Großvater, von dem ich nicht viel gehabt habe? Unsere Lebensalter haben sich nur zwölf Jahre überschnitten. Fast sein ganzes Leben hat mein Großvater ohne mich verbracht und ich meines ebenso ohne meinen Großvater. Doch zeit meines Lebens lag sein Vermächtnis bereit. Ich musste mich nur darum kümmern. Das listige Erbe zwingt mich, ihn als meinen Ahnherrn anzuerkennen. Die Lebensgeschichte, die mir mein Großvater hinterlassen hat, gehört mir erst, wenn ich ihre Botschaft zu entschlüsseln vermag. Erst wenn sie mir etwas bedeutet, weiß ich, was sie bedeutet.
Rezensionen
Markus Holzweber: [Rezension]Anton Distelbergers Großvater, Markus Distelberger (1892–1979), hat in den 1960er Jahren seine Lebenserinnerungen zu Papier gebracht. Er wurde 1892 als siebtes Kind in eine Steinakirchner Bauernfamilie geboren, arbeitete als Knecht, kämpfte im Ersten Weltkrieg an der italienischen Front, kaufte in der Zwischenkriegszeit ein Häuschen bei Purgstall und begann als Arbeiter in der Fabrik Busatis. 1929 kaufte er den Bauerhof Hubbauer in der Gemeinde Hochrieß; es war dies „die Erfüllung seiner Träume“ (168).
Dass eine solche Lebensgeschichte von den Familienangehörigen gelesen, diskutiert, vielleicht auch manchmal gedruckt und gebunden wird, ist nichts Ungewöhnliches. „Mit der Idee, sein Leben aufzuschreiben, ist er nicht der Erste und einzige gewesen“ (12) befindet auch der Autor Anton Distelberger. Ungewöhnlich ist hingegen der Ansatz Distelbergers, der diese Lebensgeschichte nicht bloß wiedergibt, sondern bearbeitet. Er sucht nach Ungereimtheiten, nach ausgelassenen Passagen und nach Erklärungen hierfür: „Bloß die Geschichte, die er erzählt, möchte ich verstehen. Ich möchte sein Geschichtenerzählen nachvollziehbar machen, ihm dabei über die Schulter schauen, in seine Geheimnisse eindringen und dort weitererzählen, wo seine Kraft nicht ausreichte.“ (15)
Mit fundierten Analysen und zahlreichen Belegen bettet Distelberger die Erinnerungen seines Großvaters in einen größeren Zusammenhang ein. Den elf Kapiteln stellt Distelberger einleitende und ordnende Gedanken voran, die helfen, die Lebenserinnerungen seines Großvaters besser zu verstehen. Diese sind in der Tat zumeist sehr hilfreich, manchmal allerdings aber auch verwirrend, wenn Distelberger etwa Asterix und Obelix (108) hinzuzieht, zwei Seiten später ein Beispiel eines Ägypters anführt, dann zum Zweiten Weltkrieg wechselt und schließlich bei der österreichischen Arbeiterpolitikerin Adelheid Popp (112) endet. Distelberger ist sich dieser Gratwanderung – eine Metaebene schaffen zu wollen, die möglichst präzise und nicht ausschweifend sein sollte – wohl bewusst, wenn er schreibt: „Über all diesen Überlegungen habe ich meinen Großvater aus den Augen verloren.“ (113)
Schade ist, dass das Büchlein nicht illustriert wurde. Anton Distelberger weist nämlich immer wieder auf Fotos hin und interpretiert diese (z.B. 126, 146, 173). Es wäre jedoch hilfreich gewesen, diese Bilder auch abzudrucken, um sich selbst ein Bild machen und die Schlüssigkeit dieser Interpretation überprüfen zu können.
Was Distelberger aber ausgezeichnet gelingt, ist das Aufspüren von Unstimmigkeiten und Lücken und das Füllen derselben: „An einer Geschichte ist wichtig, was sie nicht erzählt.“ (243) Akribisch vergleicht er die Erinnerungen seines Großvaters mit jenen aus dem familiären Umfeld. Warum erwähnt sein Großvater bestimmte Erlebnisse und Begebenheiten nicht? Diese Fragen beginnen bereits in seiner Kindheit, über diese er keine Erlebnisse, Abenteuer oder Streiche berichtet. Hatte die Kindheit für ihn keine Relevanz, weil sie kein produktiver Lebensabschnitt war?
Fragen ergeben sich auch später, etwa in der NS-Zeit, als er keinen Knecht mehr am Hof hatte und sich „halt auch im März einen Polen (…) von Scheibbs“ geholt hat. Wer war dieser und wie erging es ihm am Hof? Und schließlich, wer war die in der Nachkriegszeit am Hof lebende Frau aus Wien, die von mehreren Russen vergewaltigt worden ist, über die Anton Distelberger in den Erinnerungen seines Großvaters keinen Hinweis finden konnte. „Die ganze Familie ist gut durchgekommen“ (214), heißt es dort rückblickend. Gehörte diese Frau somit nicht zur „Familie“ und wurde deshalb nicht erwähnt?
Anton Distelberger stellt nicht nur diese wichtigen Fragen, sondern bietet auch plausible Antworten. Er erweitert damit den Betrachtungshorizont und bringt die Geschichte seines Großvaters auf eine neue Ebene.
„Jede Geschichte ist korrespondierendes Mitglied der ehrwürdigen Gesellschaft aus kollektiven Erfahrungen, Meinungen, Ansichten, Weisheiten, Anschauungen und Einstellungen. Sie ist klüger als ihr Erzähler. Es ist die Aufgabe des Rezipienten, sei es Zuhörer oder Leser, für sich den Sinn der Geschichte zu eruieren. Es ist wie beim Erinnern. Jede Lektüre schafft eigentlich ein eigenes Werk.“ (244) Dem ist nichts hinzuzufügen, außer, dass es Anton Distelberger gelungen ist, aus den Lebenserinnerungen seines Großvaters ein „eigenes Werk“ hervorzubringen, das nicht nur für jene von Interesse ist, die sich mit der Geschichte des Mostviertels befassen, sondern auch für jene, die sich für Familiengeschichte interessieren. Anton Distelbergers Zugang ist ein ungewöhnlicher und als solcher ein außergewöhnlicher mit Vorbildwirkung.
(Markus Holzweber, Rezension in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich, Heft 1–4, 2014)
Hans Hagen Hottenroth: [Rezension]
Das Farbbild auf dem Buchumschlag zeigt, vor Wald, Wiese und Weg im Hintergrund, einen alten Mann. Er trägt einen Kalmuckjanker, wie er in NÖ üblich war, einen Hut und hat einen weißen Schnurrbart. Die Frau an seiner Seite, mit Kleiderschürze, Wolljacke und Kopftuch, hält, wie er, den Stiel eines geschulterten landwirtschaftlichen Arbeitsgerätes. Das suggeriert, wie der Titel „Großvaters Geschichten. Ein Leben im Mostviertel“, dass es sich um die Autobiographie aus dem bäuerlichen Bereich handelt.
Aber Großvaters Geschichten sind nicht (nur) die Geschichten der Abgebildeten – Markus und Katharina Distelberger. Es sind vielmehr Teile daraus – in der Interpretation eines ihrer 31 Enkel, Dr. Toni Distelberger. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich seit einigen Jahren mit erzählten Lebensgeschichten. Viel theoretisches Wissen, Literatur, Reflexionen und Deutungen sind eingeflossen. Das gesamte Manuskript von Markus Distelberger wird nicht abgedruckt, nicht einmal klein gedruckt als Anhang. Der Text und die umfangreichen Anmerkungen enthalten vielmehr Vergleichsmaterial aus fremden Lebensgeschichten.
Der Enkel nähert sich dem toten Großvater mit dem Seziermesser. Seiner Familie gegenüber wendet er nicht immer die feine Klinge an, nichts bleibt anonym. Auch nicht die Verwandten, die in Interviews halfen, gewisse Lücken zu füllen. Naturgemäß weist jede Autobiographie Lücken auf. „Der Autobiograph entwirft das Bild von sich, so wie er es wünscht. Bei seinen Erinnerungen kann ihm keiner dreinreden. Durch seine Aufzeichnungen inszeniert er sein Auftreten in der Erinnerung der Nachwelt, speziell seiner Nachkommen,“ schreibt der Herausgeber. Er zweifelt am Wahrheitsgehalt der Geschichten, an denen ihn am meisten die Lücken interessieren. „Für mich ist die Geschichte einfach noch nicht fertig erzählt. Mir geht da noch was ab. Vielleicht gefällt die Fortsetzung, die ich zu bieten haben werde, nicht allen. Wer glaubt, dass der Geschichte meines Großvaters nichts hinzuzufügen ist, wer der Meinung ist, sie wäre komplett und umfassend genug, der hält meine Retuschen sicher für überflüssig.“ Markus Distelberger (1892–1979) verfasste seine Autobiographie Ende der 1960er Jahre als 72-Jähriger. Sie präsentiert sich als Erfolgsgeschichte eines Waisenknaben – die Mutter starb bei der Geburt des 15. Kindes, der Vater einige Jahre danach bei einem Arbeitsunfall – der, allen Rückschlägen zum Trotz, ein angesehener Bauer und Familienvater wird. Nach Jahren als Knecht und Dienst im Ersten Weltkrieg wurde er Wirtschafter in einem Pfarrhof. Überhaupt spielt das katholische Milieu eine wichtige Rolle, sein älterer Bruder Michael fungierte als Generalvikar in St. Pölten. In der wirtschaftlich schlechten Zwischenkriegszeit dachte Markus Distelberger an Auswanderung, doch verliebte er sich 1923 im Mostviertel in eine Magd, mit der er eine Tochter hatte. 1927 heiratete er – inzwischen Kleinhäusler und Fabriksarbeiter – eine andere, eine zehn Jahre jüngere Bauerntochter. Zwei Jahre später kaufte er das Anwesen Hubbauer in Hochrieß. Bis 1942 hatte das Ehepaar acht Kinder. Beim Tod von Markus Distelberger war sein Enkel Toni 12 Jahre alt. „Fast sein ganzes Leben hat mein Großvater ohne mich verbracht und ich meines ebenso ohne meinen Großvater. Doch zeit meines Lebens lag sein Vermächtnis bereit. Ich musste mich nur darum kümmern,“ stellt Toni Distelberger fest. Die in ein leeres Kassenbuch geschriebenen Memoiren interessierten ihn erst, als er Ende 30 und selbst Vater geworden war. „Ein Segen ist es, dass ich meinen Großvater nicht mehr fragen kann, wie er das gemeint hat, was er geschrieben hat. Die Lebensgeschichte wird zur Flaschenpost, überantwortet dem Strom der Zeit. Bei wem immer sie ankommen mag, sie war für ihn bestimmt.“
(Hans Hagen Hottenroth, Rezension im Austria-Forum, online veröffentlicht am 23. Dezember 2013)
https://austria-forum.org/af/Kunst_und_Kultur/B%C3%BCcher/B%C3%BCcher_%C3%BCber_%C3%96sterreich_2013/Distelberger_Gro%C3%9Fvaters_Geschichten
Eva Lugbauer: „Muß mir einen Großvater machen“
Lang schlummerten die Memoiren von Toni Distelbergers Großvater in einer Lade, bis sie der Enkel entdeckte und ein Buch darüber schrieb.
Toni Distelberger erinnert sich nicht wirklich gut an seinen Großvater, nur noch „an einen Blick aus verschmitzten Äuglein über einem Seehundbart, der seinen Mund verdeckte. Ein dichbauchiger Stumpen stand aus dem Gesicht hervor. Es ist hauptsächlich dieses Zigarrenrauchen, das ich mit meinem Großvater verbinde“, schreibt der gebürtige Wieselburger am Anfang seines Buchs „Großvaters Geschichten“, das kürzlich erschien.
Sein Großvater starb, als Distelberger 12 Jahre alt war – und er hinterließ ein schriftliches „Vermächtnis“. Das den Enkelsohn aber vorerst überhaupt nicht interessierte. Der Großvater hatte in den 60er Jahren begonnen, sein Leben niederzuschreiben. „Er hat es in ein leeres Kassabuch geschrieben, das lag jahrelang bei uns im Bauernhof in einer Lade“, erzählt Distelberger.
Erst als er Ende 30 war und selbst Kinder hatte, begann ihn, dieses Buch in der Lade zu interessieren. Er grub es also aus. Zu lesen bekam er Geschichten über eine schwere Kindheit, ein Lebenals Bauernknecht, den Militärdienst im Ersten Weltkrieg und eine Familiengründung unter schwierigen Verhältnissen. Distelberger schrieb aber nicht einfach das Leben seines Großvaters nieder. Vielmehr schrieb er ein Buch über das Buch seines Großvaters.
Denn es waren nicht nur die Geschichten, die Distelberger zu lesen bekam, die ihn interessierten. Viel spannender fand er die Geschichten, die der Großvater nicht niedergeschrieben hatte. „Da fehlen ganze Romane dazwischen. In diese Löcher hineinzuschauen, war für mich interessant“, so der heute 46-Jährige. „Mein Großvater verliert in seinen Aufzeichnungen zum Beispiel kein Wort darüber, dass er in Gresten eine Tochter hatte.“ Distelberger forschte nach und fand heraus, dass sein Großvater die Mutter seiner ersten Tochter heiraten wollte, aber ihm dazu das Geld fehlte.
Distelberger merkte, dass ihm sein Großvater fremd war, und begann in der Vergangenheit zu graben, sprach mit seinen Eltern, Onkeln, Tanten und anderen Verwandten – und deren hat er nicht zuwenige. Den Großvater teilte sich Distelberger mit 30 anderen Enkelkindern. „Mein Großvater gehört mir nicht allein“, schreibt Distelberger in seinem Buch. „Für andere seiner Enkel ist er möglicherweise, oder sogar sicher, ein ganz anderer Großvater. Vielleicht sogar der Großvater, der erzählt, Zeit hat, sich kümmert. Ich jedoch muss meinen Großvater erst für mich entdecken. Ich muss mir einen Großvater machen.“
Distelberger entdeckt und beschreibt in „Großvaters Geschichten“ seinen Ahnen aus heutiger Perspektive, lässt aber auch andere Verwandte zu Wort kommen und reflektiert nebenbei auch noch, teils wissenschaftlich, über das Erinnern und Erzählen. Und erweckt so die Geschichten seines Großvaters wieder zum Leben.
(Eva Lugbauer, Rezension in der NÖN vom 24. November 2013)
Weitere Bücher des Autor*s im Verlag:
Burg Raabs
Das Mädchen im Badeanzug
Die Regentropfenuhr
Im Traum war sie nackt
Liebende im Mostviertel
Magie aus dem Mostviertel