Die Süsze einer Frucht
Pflanzenikonen
Rosemarie Hebenstreit, Martin Kubaczek
ISBN: 978-3-99028-975-4
21 x 15 cm, 160 Seiten, zahlr. S/W-Abb., Hardcover
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Kurzbeschreibung
Wir sind Gräser. Der Wind kost uns
wir streifen aneinander. Wir sind ein Nest
aus Halmen. Wir sind die Wiese und das Feld
sind Steppe und Savanne, wir gehen auf
verblühen und verstreuen uns
verwehen in tausend Namen
„Lange Zeit habe ich mich ausschließlich auf Silhouetten konzentriert, also das Schattenbild einer Pflanze. Die Herausforderung aber Einschränkung, die sich dabei stellt: es eignen sich nur zarte Motive – wie etwa Gräser. In letzter Zeit habe ich von dieser puristischen Herangehensweise gelöst, immer noch finde ich die Silhouetten-Form des Scherenschnitts klassisch und wunderschön. Schwarz und Weiß. Licht und Schatten. Form und Kontur.“
(Rosemarie Hebenstreit)
Martin Kubaczeks kleine Texte erscheinen unspektakulär, ja unlyrisch, wirken oft nicht wie Gedichte, sondern eher wie kleine Erzählungen in schlichter Prosa.
Aus der Dichte: Schneekranz
unter Laubdach, Sägezahn, trennscharf
gezackt, zerbissener Rand
Falte im Blatt, die führt
den Tropfen zur Erde, leitet ab
schützt, blitzt und strahlt
zierlich, vergnügt, kleine Blumen
Sternstaub und Blütenkranz
schwarze Rippe, Antenne, dünner Rand
Girlande, fein behaart ein Zungenreiz
gegenständig gegengleich
verschämt in charmanter Pracht
[Scherenschnitte und Vorzeichnungen von Rosemarie Hebenstreit.
Texte und Bilderlesungen von Martin Kubaczek]
[DIE SÜSZE EINER FRUCHT || Die Süße einer Frucht || Die Süsse einer Frucht]
Rezensionen
Literaturhaus Wien: Zum Welttag der PoesieDer 21. März wurde von der UNESCO zum Welttag der Poesie ausgerufen. Mit dem Aktionstag soll gezeigt werden, dass die Poesie auch im Zeitalter der neuen Informationstechnologien einen wichtigen Platz im kulturellen und gesellschaftlichen Leben einnehmen kann.
Wir stellen Ihnen aus diesem Anlass einige frisch gedruckte Lyrikbände aus Österreich vor, die Sie aktuell in den Buchhandlungen erwerben bzw. auch bei den jeweiligen Verlagen online bestellen können. […]
Martin Kubaczek, Rosemarie Hebenstreit: Die Süsze einer Frucht. Pflanzenikonen. Bibliothek der Provinz, 2021.
Scherenschnitte und Vorzeichnungen von Rosemarie Hebenstreit, Texte und Bilderlesungen von Martin Kubaczek.
Mohnmehlbestäubt, dicht
Lippe und Lappen, schneckenhaft kriecht
getigerte Zacke, kleiner Drache, Reptil
fliegt um Blütendolden, wiegt
tintige Schwärze, Papier mit Milch
gesättigt, sämig, flüssig und wild
oder mild, Sehne und Sägezähne
Papiere, an Fäden geknüpft
mit den Zeichen für daifuku: großes Glück
kleines Glück – mittleres Glück –
am Lichterfest (die bunten Lampions
siehst du sie nicht?), der dumpfe
Trommelklang, und über dir im Himmel
dunkel zuckend die Fledermausschrift
Brennessel (Urtica dioica)
Martin Kubaczek, geb. 1954 in Wien, Musiker, Literaturwissenschaftler, Autor. Zahlreiche Publikationen zur Gegenwartsliteratur und Kunst, Prosa und Lyrik im Folio Verlag und in der Edition Korrespondenzen.
Rosemarie Hebenstreit, geb. 1958 in Wien, Violinstudium am Konservatorium der Stadt Wien, Medizin-Studium, Ärztin in der psychiatrischen Rehabilitation, Zeichnerin und Scherenschnitt-Künstlerin.
[…]
(Buchempfehlung, erschienen im Online-Buchmagazin des Literaturhaus Wien, veröffentlicht am 18. März 2021)
https://www.literaturhaus.at/index.php?id=13108
Astrid Nischkauer: lies die Gräser, mein Kind
Während das Gedicht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ von Hans Magnus Enzensberger aus 1957 folgendermaßen beginnt: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne“, endet das Gedicht zum „Knäuel- und Zittergras (Dactylus glomerata, Briza media)“ von Martin Kubaczek mit folgender Aufforderung: „lies die Gräser, mein Kind, auf deinen Wegen“. Die Zeile ist mehrdeutig, da damit nicht nur eine Hinwendung an die Natur gemeint ist, sondern auch an die Literatur, denn „Grasschrift, japanisch sōsho […], ist die Bezeichnung für den hoch entwickelten Schreibstil der Kalligraphie, in dem die Schriftzeichen im Pinselstrich sich auflösen und so elegant wie flüchtig ineinander übergehen und verfließen“, wie wir im nur zwei Seiten umfassenden, dabei aber ungemein aufschlussreichen Anmerkungsteil des Gedichtbandes DIE SÜSZE EINER FRUCHT erfahren.
Martin Kubaczek hat Violine, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und war von 1990 bis 2007 Lektor und Dozent für vergleichende Kulturwissenschaften an Tokioter Universitäten. Das alles schlägt sich auch in seinen Gedichten nieder, wenn man diesen Lebensspuren aufmerksam folgt. Lyrik ist an sich schon musikalisch, weil es bei Gedichten ja immer auch nicht nur um den Inhalt, sondern ebenso um Klang und Rhythmus geht. Aber in den Gedichten von Martin Kubaczek spielt Musik nicht nur formal eine große Rolle, sondern wird auch inhaltlich thematisiert, wenn er, was er optisch sieht, in Musik übersetzt, so wie das auch jeder Musiker beim Notenlesen macht. Damit interpretiert er die Pflanzen zeigenden Scherenschnitte von Rosemarie Hebenstreit und übersetzt sie für uns in Musik:
fließende Linien, ein Andante, langsam gehend
das sein Tempo sucht, sich rhythmisch bewegt
griffig wird, ausgeführt, und du siehst schon
im Entstehen, ob es gelingt, sich konkretisiert
was so aus dem Nichts kommt, sich abhebt
löst, singt, schwingt, tanzt, summt und flirrt
Die schwarzweißen Scherenschnitte von Rosemarie Heben-streit erinnern in ihrer Eleganz und Komprimiertheit oft an japanische Holzschnitte, bzw. an Jugendstilmotive, die ja wiederum ganz ausschlaggebend von japanischer Kunst inspiriert worden waren. Und Martin Kubaczek lebte selbst einige Jahre in Japan. Daher taucht Japan in seinen Gedichten zum einen in Erinnerungen an erlebte Situationen und Momente in Japan auf:
Papiere, an Fäden geknüpft
mit den Zeichen für daifuku: großes Glück
kleines Glück – mittleres Glück –
am Lichterfest (die bunten Lampions
siehst du sie nicht?), der dumpfe
Trommelklang, und über dir im Himmel
dunkel zuckend die Fledermausschrift
Zum anderen geht es auch sehr viel um die japanische Sprache und japanische Schriftzeichen. Besonders spannend wird es im Anmerkungsteil, wenn Martin Kubaczek – und wir beginnen zu erahnen, was mit „vergleichender Kulturwissenschaft“ gemeint sein könnte – bei der Rotbuche einerseits der Etymologie des deutschen Wortes nachgeht und entdeckt, dass sich der „Buchstabe“ vom „Buchenstab“ ableitet. Und andererseits darlegt, dass sich im Japanischen die Schriftzeichen von „Baum“ und „Buch“ einzig „durch einen kleinen Querstrich am Fuß der vertikalen Linie“ unterscheiden. Die Frage „Buch oder Baum“ aus einem der Gedichte, könnte beim Lernen der japanischen Sprache durchaus auftauchen, aber auch von der deutschen Buche ist es nicht weit zum Buch(staben). Oft begreift man die eigene Sprache erst im Vergleich mit anderen Sprachen wirklich, das macht den großen Reiz des Übersetzens und des Lesens von Übersetzungen aus. Und auch die Gedichte von Martin Kubaczek zeigen uns vieles und lassen uns so manches besser verstehen. Wenn man möchte, kann man DIE SÜSZE EINER FRUCHT auch als eine Schule der Achtsamkeit lesen. Und als eine Einladung, sehen und lesen zu lernen, in Bildern und Linien:
Lesen und Lösen, die Auswahl des Blicks:
In jedem Bild konzentrieren wir uns auf ein
Element, auf eine Erscheinung, erlösen sie
ganz für sich, nehmen sie und suchen
ihr Wesen, ihre Essenz, den Charakter
ihre Formensprache, das Fächerspiel:
Folgen den Linien, lesen in ihnen, […]
Der wunderschöne, im Verlag Bibliothek der Provinz erschienene Gedichtband DIE SÜSZE EINER FRUCHT. PFLANZENIKONEN umfasst 160 Seiten. Auf der einen Seite sind jeweils Scherenschnitte und Vorzeichnungen von Rosemarie Hebenstreit zu sehen, die Pflanzenumrisse in schwarzweiß zeigen. Jedem Bild ist ein Gedicht von Martin Kubaczek gegenübergestellt, und darunter wird dann immer der deutsche und lateinische Name der jeweiligen Pflanze angeführt. Am Cover ist unter dem roten Titel DIE SÜSZE EINER FRUCHT ausgerechnet ein Stechapfel zu sehen, hochgiftig in allen Teilen und ein gefährliches Rauschmittel. Vielleicht ein kleiner Witz, vielleicht eine Warnung.
Dem ersten Gedicht ist keine Pflanzenikone, sondern ein roter japanischer Stempeldruck gegenüber gestellt, mit den Schriftzeichen für „neu“ und „Frühling“. Die beiden Zeichen stehen für Jahresbeginn. In Japan beginnt das Schul- und Studienjahr im Frühjahr, im April, wie ich von Martin Kubaczek weiß. Pflanzen wachsen, blühen und reifen zu unterschiedlichen Zeiten, daher stehen bestimmte Pflanzen auch für bestimmte Jahreszeiten: Frühjahr (Kirschblüten, Schneerose, Schneeglöckchen), Sommer (Rosmarin), Herbst (Herbstzeitlose, Kratzdistel, Walnuss) und Winter (Winterlauch). Doch die Ikonen und Gedichte sind, soweit ich das nachvollziehen konnte, nicht nach Jahreszeiten sortiert, sondern in dieser Hinsicht durchmischt, was auch sehr schön ist.
Mitten im Schneefeld
entfaltet der Pflaumenbaum
die ersten Blüten
In seinen Gedichten geht Martin Kubaczek von dem aus, was er sieht, das kann beispielsweise Bewegung sein, wie bei dem nach oben schießenden Bambus:
aus dem Wurzelgeflecht
schießen die konischen Köpfe
und strecken sich, schieben sich
wie Teleskope gezogen in die Länge
Oft lässt Martin Kubaczek bei der Interpretation der Schattenrisse seiner Phantasie freien Lauf und wir staunen über seine Assoziationen, die scheinbar weit Entferntes zusammenbringen und übereinanderlegen. Halme bilden ein Fenster, Gräser eine Kathedrale, oder werden zu einem Mobile. Und so, wie es den negativen Gottesbeweis gibt, also dass man beschreibt, was Gott alles nicht ist, um so indirekt zu sagen, was Gott ist, beschreibt Martin Kubaczek einen Schattenriss, auf dem ein „Eiförmiger Walch (Aegilops ovata)“ zu sehen ist, auch in Verneinung:
Kein Mopp, keine ausgewrungene Wolle, in Fetzen
keine Wasserfäden zieht einer, rag time, hinter sich her
kein Hexenbesen, zersplitterter Torpedo, Angriff von Gelsen
keine aufgezwirbelten, aufgedröselten Kabel-Enden
Manchmal löst schon allein der Name einer Pflanze eine Erinnerung aus, und wir sind plötzlich ganz weit weg, auf der Kuppel einer Insel zwischen Minze, Rosmarin und Eidechsen, oder auch zurück in der Kindheit:
[…] Liefen hinaus
in die Felder, wo uns die Kolben vom Kukuruz
um die Ohren schlugen, steckten ein paar
unter die Hemden, die wir dann in der Hütte
ins kochende Wasser warfen. Mit Sand
und Halmen rieben und putzten wir dann
Fett und Ruß von Pfannen und Töpfen, Kieselsäure
und lernten so auch den Namen: Schachtelhalm
Im Beschreiben von dem, was zu sehen ist, denkt Martin Kubaczek sich oft hinein in sein Gegenüber und spricht die Pflanzen mitunter auch direkt an:
Ach Knirps!
Was machst du da?
Was frag ich dich?
Willst du hinüber sehen
über dich? Oder wirfst du
einen Blick auf mich zurück?
Und er stattet die Pflanzen mit menschlichen Eigenschaften aus, bei ihm können Pflanzen gestikulieren, argumentieren, überlegen, sich untereinander unterhalten und uns die Hand reichen:
[…] und geht und fliegt und weht und streckt und reicht dir Hand
um Hand, so zärtlich froh und rund, so duftig elegant…
So wie uns in diesem Gedicht das Weidenröschen Hand um Hand reicht, reichen uns auch die Gedichte von Martin Kubaczek und die Pflanzenikonen von Rosemarie Hebenstreit die Hand, laden uns ein, näher zu treten, und erklären und zeigen uns vieles, statt unnahbar auf Distanz zu gehen. Damit treten die beiden nicht nur in einen Dialog miteinander, sondern auch mit uns, ihrer Leserschaft.
(Astrid Nischkauer, Rezension für Signaturen. Forum für autonome Poesie, online veröffentlicht am [?.] Mai 2021)
https://signaturen-magazin.de/martin-kubaczek--die-suesze-einer-frucht.html
Peter Pisa: Das Kraut wird zur Dame im Kimono mit schmalen Hüften
Martin Kubaczek richtet sich nach den Bildern der Künstlerin Rosemarie Hebenstreit
Im Scherenschnitt verwandeln sich die Pflanzen. Nun findet der Dichter die Brennnessel „mohnmehlbestäubt“, der Adlerfarn wird zum Teesieb, Buchensämlinge bekommen Krabbenscheren, tote Fichtenstämme sind aus Chromstahl wie die Drehkreuze bei der U-Bahn…
Durchschaut
Martin Kubaczek richtet sich ganz nach den zarten Bildern der Wiener Künstlerin (und Ärztin) Rosemarie Hebenstreit. Er unterrichtete 17 Jahre an Universitäten in Tokio vergleichende Kulturwissenschaften, wohl deshalb sieht er im Wegerich ein Schönheitsideal der Edo-Zeit: schmale Hüften. Der Wegerich – eine schlanke Dame, Nadel im Haar, Weideblattkleid, Kimonokragen.
Schauen und lesen. Und noch einmal lesen und spüren, wie die Pflanzen darauf warten, genau angeschaut, anders angeschaut … durchschaut zu werden. Und wir, so Kubaczek, sind die Gräser, wir gehen auf, verblühen, verstreuen uns und verwehen in tausend Namen.
(P.P., Rezension im Kurier vom 11. Dezember 2021)
https://kurier.at/kultur/buch/der-dichter-verwandelt-kraut-in-eine-dame-im-kimono/401835763
Johannes Tröndle: Scherenschnitt und Bilderlesung
Johannes Tröndle liest »DIE SÜSZE EINER FRUCHT« von Martin Kubaczek
Mit kleinen Nagelscheren und einem speziellen, einseitig schwarz gefärbten Papier arbeitet die niederösterreichische Ärztin und Künstlerin Rosemarie Hebenstreit, die bereits in der Scherenschnitt-Werkstatt ihrer Mutter aufgewachsen war und sich seit rund zwanzig Jahren mit Pflanzenmotiven befasst – nachzusehen auf ihrer Homepage und vor allem in einem jüngst, gemeinsam mit Martin Kubaczek publizierten Buch, das den feinen, detailreich ausgestalteten Papierarbeiten Gedichte oder, wie es im Buch eigentlich heißt, Texte und Bilderlesungen zur Seite stellt.
Rund 80 Pflanzen, im Inhaltsverzeichnis mit ihrem deutschen und botanischen Namen angeführt, umfasst das Kompendium. Die Doppelporträts der Pflanzenikonen – vom Stechapfel über Brennnessel und Mondviole bis zum Liegenden Weißklee – folgen dabei keiner erkennbaren Reihenfolge. Weder sind die Pflanzen systematisiert (undogmatisch mischen sich zu den krautigen Pflanzen auch Bucheckern oder Kirschblüten), noch finden sich Kapitel oder Zwischentitel. Überhaupt sind Überschriften ausgespart – auch die Texte selbst haben keine. Eine Zusammenstellung, die Anfangs- und Schlussgedicht nicht ganz dem Zufall überlässt, darüber hinaus aber sehr offen konzipiert scheint; dazu einlädt, das Buch an beliebiger Stelle aufzuschlagen, sich seinen eigenen Lektürepfad durch das Pflanzendickicht zu bahnen.
Ich frage mich, was ich sehe, folge dem Bild, lese
So lautet die erste Verszeile eines Gedichts, das auch poetologisch verstanden werden kann und in Fragen von „Wachstum“ und „Gelingen“ Gedicht und Pflanze, die lyrische mit der biologisch-organischen Ebene analog setzt:
Wird es? Sprießt es? Dreht es zum Licht, gedeiht
es, oder: Nein, das wird nichts … etwas vergeht
oder es ist ein Konglomerat, das da entsteht
ein Puzzle, Mosaik, etwas, das sich fügt, aneinander
legt und zusammensetzt aus einzelnen Elementen
Tatsächlich speisen sich Kubaczeks Texte aus verschiedensten Quellen (dazu später), und sie folgen – wiewohl rein äußerlich von ähnlicher Gestalt, je etwa 10 bis 20 Verszeilen – verschiedenen Wegen zum Licht des Gedichts. Anschauung und Reflexion (Ich frage mich, was ich sehe) bilden den Ausgangspunkt für kleine sprachliche Wanderungen, die in ganz unterschiedliche Regionen führen.
Der gerade zitierte Text, es ist jener zum Eiförmigen Walch (einem Süßgras), ist hierfür ein gutes Beispiel, weil es ihn respektive die Pflanze auch noch in einer zweiten (und etwas weiter hinten sogar dritten) Ausführung gibt. Streckt der Walch in der ersten Scherenschnitt-Variante die Ähren der Sonne entgegen, hängt der eiförmig verdickte Blütenstand im zweiten Bild schlaff nach unten. Und anstelle der poetologischen Reflexion schüttet das Gedicht ein Füllhorn an visuellen Assoziationen über die Lesenden aus:
Kein Mopp, keine ausgewrungene Wolle, in Fetzen
keine Wasserfäden zieht einer, rag time, hinter sich her
kein Hexenbesern, zersplitterter Torpedo, Angriff von Gelsen
keine aufgezwirbelten, aufgedröselten Kabel-Enden
(…)
Ein ähnliches Paar bilden die beiden Wirbeldost-Varianten. Hier sind die Scherenschnitte ident, einmal als Positiv-, einmal als Negativform. Und während der eine Text mit visuellen Vergleichen arbeitet (und sich dabei mittels Flipper-Automaten und Hochschaubahnen an die Hamburger Reeperbahn katapultiert), bleibt der andere dicht beschreibend an der Pflanze dran. Und nicht die Silhouette gibt hier den Anstoß, sondern der Pflanzenname und das Begriffsfeld, das ihn umgibt:
Lese: Clinopodium, Gattung Neptotidae
knackig und kantig der wässrige Stiel
scheinquirlig, bewimpert, Lippenblüten
Windstreuer, klebhaftet an Schmetterlingen
Man meint dem Dichter regelrecht über die Schulter blicken zu können, wie er Wirbeldost, Mondviole oder Himmelschlüssel im Lexikon nachschlägt und in der botanischen Fachsprache nach poetischen Fundstücken gräbt. Zwanglos aneinandergereiht, als Addition kleiner Sinneinheiten von drei bis vier Worten, sind es dabei vor allem die sprach-musikalischen Qualitäten, die das Konglomerat zusammenhalten. Denn ohne allzu offensichtlich von lyrischen Stilmitteln Gebrauch zu machen, sind die Gedichte doch immer mit dem Ohr für Rhythmus und Klang geschrieben. Reime etwa tauchen häufig auf – aber sie wirken nie gewollt, sondern fast zufällig, wie „mitgenommen“, vom Wegrand aufgelesen.
Dies, apropos, ein weiteres Feld, das in den Texten beackert wird: die natürliche Umgebung der Pflanzen. Ein gelichteter Wald, eine schottrige Senke, Wiesenwege, Wildgruben, oder die sandige Böschung am Wegrand – Orte, an die in den Gedichten teils Erlebnisse anknüpfen, sodass aus der Beschreibung eine Erzählung wird. Die Gedichte öffnen sich dann dem Subjektiven, schwenken von hermetischer Naturbeschreibung hin zu jenen, die sie durchstreifen – oder in ihr ruhen. Etwa in der ersten Strophe des Rosmarin:
Ich lag auf der Kuppe der Insel
unter sprühenden Fenchelstauden
in Minze und Rosmarin, Eidechsen
raschelten im Laub und verschwanden
in Ritzen zwischen den Steinen, verwilderte
Olivenhaine im Mittagsglühen
Ganz am Ende des Bandes findet sich ein kleiner Anmerkungsapparat, in dem – ein weiterer Assoziationsraum – die Japan-Bezüge des Autors, der mehrere Jahre dort gelebt hat, erläutert bzw. Spuren zu anderen Autoren gelegt werden: zu Franz Kafka, Walter Benjamin, Paul Celan, Ezra Pound, oder auch zu Kubaczeks Dichterkollegen Bodo Hell, den man sich in manchem Wander-Gedicht gut als (im wahrsten Sinne des Wortes) Weggefährten vorstellen kann.
Und nicht zuletzt schlagen die Schlussbemerkungen auch die Brücke zur Musik, zu Bach und Charles Ives – wie auch in den Gedichten selbst den visuellen immer wieder auch musikalische Assoziationen zur Seite stehen, Tonbänder und Notenlinien auftauchen, die gefiederten Blättchen der Vogelwicke an flirrende Klavier-Tastaturen erinnern. Oder den Bambusröhren zugehört und – wie in einem der Zitate hier angeklungen – kurzerhand ein rag time angestimmt wird.
(Johannes Tröndle, Rezension in der poesiegalerie online veröffentlicht am 7. Januar 2022)
https://www.poesiegalerie.at/wordpress/2022/01/07/scherenschnitt-und-bilderlesung/