
Wir lagen vor Madagaskar
Eine Vernehmlassung
Klaus A. Amann
ISBN: 978-3-99028-358-5
19,5×12 cm, 192 Seiten, Hardcover m. Lesebändchen
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Kurzbeschreibung
Drei Strophen eines Matrosenlieds und eine unvollständige Strophe eines Verlaine-Gedichts sind alles, was vom Gedächtnis meines Vaters übrig geblieben ist. Vers für Vers versuche ich herauszufinden, was es mit diesem Lied und dem Gedicht und dem Leben meines Vaters auf sich haben könnte. Wechselweise führen die Zeilen in die verlorene Jugendzeit eines unfreiwilligen Kämpfers gegen die Partisanen, in meine eigene Jugendzeit in den 1960er und 70er Jahren im milden Westen Österreichs oder in den gegenwärtigen Alltag mit einem dementen Elternteil.
– Ich habe mir mein Alter anders vorgestellt, sagt meine Mutter.
– Dein Alter sich auch, würde mein Vater darauf antworten, könnte er wie früher noch Wortspiele machen.
Rezensionen
Simone Fürnschuß-Hofer: Gegen das Vergessen anschreibenFrüher ein wandelndes Literaturlexikon, verliert Meinrad Amann (geb. 1927, gest. 2016) in seinem letzten Lebensjahrzehnt nach und nach sein Gedächtnis. Sein Sohn Klaus Amann hat ein sehr persönliches Buch über ihn geschrieben. Darin spürt er einer Generation nach, die dem Schweigen näher ist als dem Reden und nimmt die Leserschaft mit hinein in den Alltag mit einem an Demenz erkrankten Elternteil.
2017 bereits hat der Vorarlberger Klaus A. Amann, 67, Lehrer (in Pension), Übersetzer und Lehrbuchautor, im Verlag „Bibliothek der Provinz“ das Buch „Wir lagen vor Madagaskar“ herausgebracht. Es geht um die persönliche Geschichte seines Vaters, der einer fortschreitenden Demenz zu Folge nach und nach fast alle seine Erinnerungen verliert. Der Sohn geht auf Spurensuche: Wieso hat sein Vater nie viel aus seiner Jugendzeit erzählt, was machte ihn zu dem Mann, der er geworden ist und warum ist das titelgebende Seemannslied eines der wenigen Erinnerungs-Bruchstücke, das geblieben ist, um es bei jeder Gelegenheit wieder und wieder und zum Leidwesen so mancher Familienmitglieder zu rezitieren: „Wir lagen vor Madagaskar / und hatten die Pest an Bord. / In den Kesseln, da faulte das Wasser / Und täglich ging einer über Bord …“ Wie ist es überhaupt zu fassen, dass jemand, der einmal so viel Wissen abrufbar hatte, plötzlich nicht mehr weiß, wann sein Geburtstag ist? Und was, wenn das große Vergessen auch einen selbst einmal betreffen sollte? Der Autor möchte die Leerstellen füllen, er (ver)sucht Antworten und zeigt auf mitunter amüsante Weise auf, welche Diskrepanzen die Diagnose Demenz innerhalb einer Familie zu Tage fördern kann.
Warum er erst jetzt, sieben Jahre nach Druck des Buches, verstärkt an die Öffentlichkeit geht und was ihn überhaupt bewogen hat, sich als „blutiger Amateur“ – seine Worte – ans literarische Schreiben zu wagen, erzählt er uns im Interview.
marie: Was hat dich dazu bewogen, ein Buch über deinen Vater zu publizieren?
Klaus Amann: Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, das Manuskript zu veröffentlichen. Es war mir lediglich ein Bedürfnis, mehr über meinen Vater herauszufinden und schreibend dem Phänomen Demenz und was es im Alltag mit allen Beteiligten macht, nachzugehen. Ich bin durch Gespräche mit zwei Onkel und einer Tante auf viele Sachen gekommen, die wir nicht wussten, weil Vater nie drüber geredet hat. Und ich habe mir gedacht, wenn das jemand aufzeichnet, könnte das auch für andere interessant sein. Vielleicht auch für seine Enkelkinder. Ich habe das Manuskript dann meinem Vater zum 85. Geburtstag geschenkt – wohl wissend, dass er es kaum noch verstehen wird – und es absichtlich daheim rumliegen lassen, in der Hoffnung, dass es auch meine Geschwister lesen.
Die sich dann wie dazu äußerten?
Erstmal gar nicht. Niemand hat sich zum Manuskript geäußert. Später bin ich aktiv auf sie zugegangen und habe nachgehakt, was sie dazu sagen würden, wenn ich den Text publiziere. Eine Meinung war extrem negativ und die anderen gingen in Richtung „lieber nicht“ mit der Begründung, dass es unsere Privatsache ist. Natürlich ist das eine grundlegende Frage: Darf man, soll man über private Dinge schreiben?
Soll man?
Inzwischen denke ich mir, über Dinge zu schreiben, die viele Leute betreffen wie in diesem Fall das Thema Demenz, kann anderen helfen. Allein schon, indem man erkennt, dass man nicht allein ist mit der Herausforderung.
Wie ging es also weiter?
Tatsächlich habe ich einen Verlag gefunden, der ein schönes Buch daraus gemacht hat. Und ich wurde dabei von einer sehr guten Lektorin begleitet, die ein paar Kapitel, die wirklich ans Eingemachte gegangen wären, gestrichen hat. Das war sicher gut so. Überhaupt ein erstaunlicher Prozess so ein Lektorat und für einen Lehrer im Übrigen eine schmerzhafte Erfahrung, wie viel korrigiert werden musste (lacht). Aus Rücksicht auf meine Geschwister hat es dann aber in Vorarlberg nur zwei Lesungen gegeben, um keinen Wirbel zu verursachen. Im Nachhinein denke ich mir, es war etwas feig von mir, nicht gleich und ganz an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich hätte dazu stehen müssen.
Zwischenzeitlich gab und gibt es ja auch Ermutigung von außen.
Ja, einige aus der Verwandtschaft haben das Buch gelesen und mir rückgemeldet, dass sie es toll finden und dass nichts drinsteht, das der Familie schadet. Und der Künstler und Verleger Ulrich Gabriel ist zu meiner großen Freude auf mich zugekommen und hat mich motiviert, es nochmals mit Lesungen anzugehen und hat auch gleich eine am Spielboden organisiert.
Kommen wir zum Inhalt. Bitte was ist eine Vernehmlassung (Anm: siehe Untertitel)?
Das ist ein schweizerischer Ausdruck und mir sehr geläufig, weil ich in der Schweiz unterrichtet habe. Eine Vernehmlassung ist im Grunde ein schriftliches Dokument, das einerseits Missstände aufzeigt aber auch konkrete Vorschläge macht, wie Dinge verbessert werden können. Auf der Suche, was mein Buch ist, nämlich kein Roman und auch keine Autobiografie, fand ich das eine passende Beschreibung.
Im Text wird deutlich: Lange haben die Familienmitglieder so getan, inklusive dem Vater selbst, als wäre alles noch im grünen Bereich. Im Nachhinein ein Fehler?
Es wäre sicher sinnvoll gewesen, sich früher mit allen Familienmitgliedern zusammenzusetzen und sich ehrlich auszutauschen. Meine Frau war die erste, die gesagt hat, euer Papa wird langsam dement, ihr müsst was tun. Da entsteht schnell eine Abwehrhaltung, man will sich nichts sagen lassen, man will es nicht wahrhaben. Im Nachhinein wär’s vielleicht gscheit gewesen, früher zu reagieren, sich für eine Untersuchung beim Experten und nicht beim Hausarzt, der ihn seit 50 Jahren kennt und einfach eine Pille mehr verschreibt, zu entscheiden. Und dann zu schauen, wie man mit besserer Ernährung und mehr Bewegung gegensteuern kann, wie man den Prozess verlangsamen kann, kurzum, wie man unserem Vater helfen kann.
Wie war es für dich persönlich, mit dem Thema Demenz konfrontiert zu werden?
Am Anfang doppelt erschreckend. Erstens, weil jemand wie er, der so von seinem Gedächtnis gelebt hat und dem es als Lehrer sehr wichtig war, möglichst viel im Kopf zu haben, sein Wissen verlor. Zweitens, weil ich meinem Vater sehr, sehr ähnlich bin und genetisch mit Sicherheit gute Voraussetzungen habe, dass auch mein Gedächtnis früher verschwindet, als mir lieb ist. Wir sind beide Lehrer für Englisch und eine romanische Fremdsprache, wir sind beide Hobbymusiker, wir sind beide Übersetzer. Vielleicht wollte ich auch deshalb unbedingt seine Biografie verstehen.
Das Seemannslied „Wir lagen vor Madagaskar“ hat dein Vater regelmäßig rezitiert – egal, wie passend oder unpassend die „Gelegenheit“. Man bekommt beim Lesen allerdings das Gefühl, dass du dem Sprengen von Konventionen durchaus etwas abgewinnen kannst?
Mich hat es zumindest nie gestört. Wenn man bedenkt, dass er in einer gemütlichen Kaffeerunde nicht mehr verstanden hat, was die Leute um ihn herum reden, ist es nur allzu verständlich, dass man keine sozialen Gepflogenheiten mehr einhalten kann.
Stellenweise kommt da auch eine spitze Feder durch, die jene Dinge beim Namen nennt, die Familien hierzulande gerne dem Schein unterordnen. Kann es sein, dass auch das ein Antrieb war? Dynamiken aufzuzeigen, die bestimmt auch in anderen Familien subtil wirken?
(Überlegt lange). Wenn, dann unbewusst. Aber ja, die Familie wird kritisch beleuchtet, in der Hoffnung, dass ich mich selbst davon nicht ausgenommen habe. Ich verstehe, dass je näher man dran ist, desto weniger man die Veränderung wahrhaben will. Das Jammern und das Sich-nicht-helfen-lassen-Wollen unserer Mama war aber beispielsweise schon schwierig für mich.
Sie wollte sich im Haushalt nicht helfen lassen?
Ja, zum Beispiel. Als es um eine Pflegekraft ging, sagte sie einmal „Was soll i mit so anra Schesa“ und nachdem dann endlich doch eine Pflegerin eingestellt wurde, meinte sie „Was täten wir nur ohne sie?“
Hast du durch das Recherchieren jene Puzzleteile gefunden, die dir fehlten?
Einerseits habe ich viel erfahren und mir gleichzeitig den Vorwurf gemacht, dass wir zu Lebzeiten nicht mehr nachgehakt haben. Dass wir nicht Fragen gestellt haben, wie es damals war, worunter sie gelitten haben usw. Aber diese Generation wollte das Geschehene abschließen – wohl auch vergessen – und hat genau so keinen Abschluss gefunden. Dafür hat mir nun meine Tochter ein Frage-Buch geschenkt: „Erzähl mal Papa“.
Und? Hast du die Fragen beantwortet?
Ja, schriftlich, dafür habe ich zwei bis drei Jahre gebraucht. Aber das darf nicht publiziert werden! (lacht)
Hast du eigentlich herausgefunden, was es mit den madegassischen Seemännern auf sich hat?
Nicht so ganz. Mal abgesehen davon, dass es ein Lied ist, dass viele aus meiner Generation noch kennen und sich bei meinem Vater vielleicht einfach verfangen hat. Irgendwann aber dachte ich dennoch, vielleicht sollte ich nach Madagaskar reisen, vielleicht finde ich dort eine Erklärung, wieso es genau dieses Lied ist. Passiert ist am Ende meiner dreiwöchigen Reise dann folgendes: Im Hotel hat mich eine junge Frau angesprochen. Ob ich ihr helfen könne, sie würde gerne als Au-Pair nach Deutschland kommen. Ich konnte eine Website ausfindig machen, die sie vermittelt hat und das Honorar meiner ersten Lesung habe ich ihr für den Flug gespendet. Inzwischen ist sie in Deutschland und macht eine Ausbildung zur Alten- und Krankenpflegerin und wird wahrscheinlich demnächst auch demente Personen betreuen. So schließt sich zumindest ein Kreis.
Herzlichen Dank für das Interview.
Klaus A. Amann, 67, verheiratet, zwei erwachsene Töchter, lebte viele Jahre im Ausland und in Wien und hat heute in Hörbranz sein Zuhause. Bis zu seiner Pensionierung war er Lehrer für Spanisch und Englisch, bis heute ist er als Übersetzer tätig. Seine Leidenschaft gilt der Literatur und der Musik. […]
(Simone Fürnschuß-Hofer im Gespräch mit Klaus A. Amann für die marie. Die Vorarlberger Straßenzeitung #96 / September 2024, S. 14 ff.)
https://issuu.com/marie-strassenzeitung.at/docs/marie_96_f_r_issuu