Nichte Gabi
Erzählungen
Jakob Michael Perschy
ISBN: 978-3-85252-397-2
21 x 15 cm, 104 S.
15,00 €
Lieferbar
In den Warenkorb
Kurzbeschreibung
Nicht Gabi
Immer begann der Sommer unter dem Holunder. Unter den ausladenden Ästen des alten, verholzten Strauches hatte uns die Tante ein Stübchen bereitet: Ein kleiner Tisch und eine kleine Bank, das war genug. Es war das Zwergenhaus. Dort, im schwarzgrünen Licht, das uns einfing, sobald wir durch die fast bis auf den Rasen reichenden Zweige des Hollerbusches geschlüpft waren, nahmen wir die erste gemeinsame Jause ein: Die Nichte Gabi und ich.
Wir waren ausgeborgte Sommerkinder, und der Holunderstrauch wuchs und wucherte in der hintersten Ecke des Gartens von Tante Ilse und Onkel Hermann, die selbst keine Kinder hatten. Gabi und ich verbrachten jeden Sommer ein bis zwei Wochen dort. Wir sprachen uns mit »Neffe« und »Nichte« an, meistens.
Im Supermarkt beim Einkaufen hatte eine fremde Dame – wir waren noch ziemlich klein, es dürfte unser erster gemeinsamer Sommeraufenthalt im Tantenhaus gewesen sein – unsere Tante gefragt, ob wir denn ihre Kinder seien. »Nein, nein«, hatte sie geantwortet, »das sind Neffe und Nichte!«
Uns dürften diese Bezeichnungen beeindruckt haben, und wir behielten sie als Anreden bei.
Nichte Gabi und ich sahen uns sonst das Jahr über kaum. Sie war die Tochter von Onkel Hermanns Bruder und ich der Sohn von Tante Ilses Schwester, und wir lebten in ziemlich weit voneinander gelegenen Gegenden. Im Sommer wurden wir, wie gesagt, an Onkel und Tante »ausgeliehen«, und unsere Aufenthalte bei ihnen folgten den verschiedenen Terminplanungen unserer Familien und waren von unterschiedlicher Dauer, überschnitten sich aber meistens für wenigstens ein paar Tage. Gabi und ich, wir kamen sehr gut miteinander aus. Bei unseren gemeinsam erdachten und von der Tante gutmütig dirigierten Ritter-, Räuber- und Gespensterspielen herrschte größtenteils die hübscheste Harmonie, wir waren beide einigermaßen das, was man damals unter »braven« Kindern verstanden hat (und was es heutzutage angeblich überhaupt nicht mehr gibt), und das Abends-nicht-früh-zu-Bett-gehen-Wollen wurde von Tante und Onkel mit Sympathie heischendem Augenzwinkern toleriert.
Diese sogenannte Tantenfrische: Im nachhinein gesehen dürfte es sich wohl dabei um eine nahezu ungetrübte Kinder-Sommer-Idylle gehandelt haben, abgesehen davon, daß Onkel Hermann mir so gut wie keine und seiner Nichte Gabi auch nur sehr wenig Beachtung schenkte. Letztere – also die sehr wenige Beachtung – beschränkte sich streng genommen darauf, daß er ihr, wenn er sie über die Wiese laufen sah oder auch wenn er ihr im Haus begegnete, »Avanti, Bionda!« (Gabi war immer ziemlich blond) zurief. Mir rief er nichts zu ...