
Mißbraucht und betrogen
1938–1945 ; Jugenderinnerungen [Roman]
Helmuth Fetz
ISBN: 978-3-85252-197-8
21 x 15 cm, 296 Seiten, Hardcover
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Kurzbeschreibung
Ich habe öfters gehört und gelesen, daß man schlimme Ereignisse in der Jugend am besten vergessen kann, wenn man versucht, sie aufzuschreiben. Lange habe ich gezögert, ob ich dies tun soll und ob es mir etwas bringen wird. Jetzt aber, da diese unselige Zeit schon über fünfzig Jahre vorbei ist, wage ich das schwierige Unterfangen. Als Angehöriger des Geburts Jahrganges 1928, am 13. März geboren, genauer gesagt am 14., der Hochwürden hatte noch das Kalenderblatt vom Vortag auf seinem Abreißblock, als mich mein Vater ins Kirchenbuch eintragen ließ. Es war zu dieser Zeit üblich, die Neugeborenen sofort zur Taufe anzumelden und diese dann so schnell als möglich zu vollziehen. Starb nämlich ein Kind bevor es getauft war, so wurde es auf dem sogenannten Schindanger vor der Friedhofsmauer begraben. Dort, wo man auch Selbstmörder und Verbrecher verscharrte. Die sogenannte christliche Nächstenliebe reichte nicht über die Kirchenmauer hinaus.
Mit diesem falschen Geburtsdatum lebe ich jetzt schon 67 Jahre, und es ist mir nie zum Schaden gewesen, denn so kam ich in den Genuß, zweimal im Jahr Geburtstag zu feiern, und das hat etwas für sich.
Es war an meinem offiziellen 10. Geburtstag, also am 13. März 1938, als der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich vollzogen wurde. Wir als Kinder hatten nicht viel Ahnung vom ganzen Wirbel, der da gemacht wurde.
Österreich oder nicht Österreich, statt dessen Großdeutschland, was hatte das für uns für eine Bedeutung? Es gab einen schulfreien Tag, noch dazu an meinem Geburtstag, das war im Moment für mich das Wichtigste. Die meisten Erwachsenen, die wir hörten, hatten eine Freude. Man konnte ihre Freude spüren, jetzt wird alles anders; jetzt wird es ganz sicher besser, die Arbeitslose hat ein Ende! Informationen aus dem Akreich, von Grenzgängern verkündet, taten schon seit langem ihre Wirkung. Sie sagten immer, wie gut es dort sei, und daß es Arbeit genug gebe in Deutschland. Von den Hintergründen der Wunder hatten alle keine Ahnung.
Bei der Bahnüberführung war zu dieser Zeit ein stabiler Holzzaun, und weil darauf immer junge Burschen, die keine Arbeit hatten, saßen, hieß er einfach Arbeitslosenhag. Auf diesem Zaun saßen die Arbeitslosen bei schönem Wetter, wie die Stare vor ihrem Abflug in den Süden im Herbst. An den Wochenenden gesellten sich auch solche dazu, die in Deutschland arbeiteten, solche die zu den Wochenenden nach Hause fuhren. Saßen diese dann mit den Daheimgebliebenen zusammen auf dem Zaun, so wurde auch politisiert. So zum Beispiel über die guten Seiten des Deutschen Reiches, gegenüber Österreich und seinen Zuständen: Arbeitslose, wo man hinschaute, und mit ihnen das Elend in fast jedem Haus. Sie wußten nicht, wie damals von Deutschland aus dem Verschlechtern des Arbeitsmarktes nachgeholfen wurde.
Die 1000-Reichsmark-Sperre brachte den Fremdenverkehr zum Erliegen. In den Fabriken wurde eine Prämie für jede stillgelegte Maschine bezahlt, so daß es immer mehr Arbeitslose gab. Damals sagte man noch ausgezahlt, denn man hat ausgezahlt, nicht wie heute entlassen. So saßen dann eben Arbeitende und Ausgezahlte gemeinsam auf dem Zaun. Die mit Arbeit hatten Zigaretten, die anderen nicht und so rauchten meist zwei an einer Zigarette. Da wurde dann auch tüchtig Werbung für den Anschluß gemacht und allerlei andere Sachen erzählt, die nicht für unsere Ohren waren. Wenn wir kleine Buben zu nahe kamen, konnte es sein, daß wir eine Ohrfeige bekamen. Für uns war es immer interessant dort herumzuhorchen, doch ab dem 13. März war der Zaun immer weniger besetzt, zumal einige wieder Arbeit bekamen, andere sofort zum Reichsarbeitsdienst oder zum Militär eingezogen wurden. Einige von diesen Zaungästen hatten sich freiwillig gemeldet, denn da konnten sie sich die Waffengattung aussuchen. Fliegerei und Marine waren nebst Panzerfahrer und Fallschirmjäger das Gefragteste.
So lichteten sich dann in den ersten Monaten die Reihen auf dem Zaun gewaltig. Die Parteileute sahen es auch nicht gerne, wenn die jungen Burschen auf dem Zaun saßen, der so einen schlechten Namen hatte. Vorbei die Hosenträger, die aus Autoschläuchen geschnitten waren.
Kneippsandalen, die mit Kneipp nur das Barfußgehen gemein hatten. Sie waren aus alten Autoreifen gefertigt. Sie waren gesund und billig und dazu jederzeit zu ersetzen. Wurde es kalt, das war, wenn es den ersten Frost hatte, so wurden die Holzschuhe angezogen und bis zum Frühjahr getragen. Gekaufte, richtige Schuhe waren nur für den Sonntag da. Freilich gab es auch zu dieser Zeit Kinder, die gut gekleidet waren, meist Familien mit einem Kind wo beide Ekernteile arbeiteten. Doch mit diesem ominösen 13. März 1938 wurde alles anders. Ganz gewaltig anders, wie viele schmerzhaft erfuhren. Doch die arbeitende Masse atmete auf. Neue Zuversicht, neue Hoffnung, wurde allerorts verkündet. Zu unrecht, wie sie später merkten. Wir Schulbuben ahnten von alledem nichts. Es waren nur ganz wenige Bürger, die anders dachten, und es waren im übrigen solche, denen es an nichts fehlte. Wie alle wußten, war ihre politische Einstellung klerikal-austrofaschistisch. Die Heimwehr und Vaterländische Front waren ihre Heimat. Wir Buben sahen dann schon wieder einmal einen mit der Spielhahnfeder auf der Mütze, wußten aber nur von ungefähr, was das für einer war. Wir waren arm, außerdem zu jung und zu uninteressiert.
Im übrigen sprach Vater nie über Politik vor den Kindern. Das eine wußten wir aber: man mußte eine gute Note im Betragen haben, um weiterzukommen in der Schule, und das hieß, eine Eins in Religion …