Literarisches Kolloquium Thomas Bernhard [1984]
Materialien
Johann Lachinger, Thomas Bernhard
ISBN: 978-3-85252-032-2
21 x 15 cm, 220 S., Hardcover
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Kurzbeschreibung
[Hrsg. von Johann Lachinger …]
Walter Weiss : Thomas Bernhard – Peter Handke: Parallelen und Gegensätze
Vorbemerkungen
Ich behandle mein Thema nicht biographisch, ich stütze mich auf keine biographischen Hintergrundinformationen. Ich arbeite vielmehr die »Parallelen und Gegensätze« aus veröffentlichten Werken (Texten), die wir alle lesen können, heraus. Ich bewege mich also bewußt an der Oberfläche und suche nicht die Tiefe. Als man mich zu dieser Veranstaltung einlud, trug man mir ein Referat zur Stellung Thomas Bernhards in der Gegenwartsliteratur an. Ich zog es vor, einen konkreten Einstieg zu wählen, der weniger zu Pauschalzuweisungen verrührt. Für das anfänglich vorgeschlagene Thema wird dabei doch das eine oder das andere abfallen.
Einstieg
Als Einstieg wähle ich die Beobachtung, daß das Werk Thomas Bernhards und das Peter Handkes in den letzten Jahren auffällige Bezüge zu den Klassikern zeigt. Klassiker verstehe ich hier nicht eingeschränkt auf die deutschen Klassiker, sondern als vorbildliche, traditionsstiftende Autoren und Werke. Allerdings kommt Goethe dabei doch eine ausgezeichnete Rolle zu, wenn auch wohl nicht ohne Zusammenhang mit dem »zufälligen« Datum seines 150. Todestages. Auf den ersten Blick ergibt sich eine starke Übereinstimmung Bernhards und Handkes im Gebrauch traditionsträchtiger Namen, der Literatur, der Malerei, der Musik, der Philosophie. Beim näheren Zusehen stellen sich aber dann doch gravierende Nichtübereinstimmungen heraus. Thomas Bernhard Ich beziehe mich bei Thomas Bernhard vor allem auf die Kurzprosa „Goethe schtirbt“, veröffentlicht am 19. März 1982 in einer Sammlung von Beiträgen, die die Zeitschrift „Die Zeit“ zum 150. Todestag Goethes brachte, und auf „Über allen Gipfeln ist Ruh. Ein deutscher Dichtertag um 1980. Komödie“ (198).
„Goethe schtirbt“ verbindet die Engführung von Goethes Leben auf das bevorstehende Ende hin mit einem gegenläufigen Ausgreifen des Sterbenden auf andere Denker und Dichter: Ludwig Wittgenstein, Adalbert Stifter, Arthur Schopenhauer. Zeitgrenzen und Ortsgrenzen spielen dabei keine Rolle. Ein Zeichen dafür: Der Aufenthaltsort Wittgensteins ist für Goethe gleichgültig, austauschbar, »Oxford oder Cambridge«.
Dieser Goethe ist kein lebenerzeugender Traditionsstifter, sondern der große Liquidator: Er hat »das deutsche Theater zugrundegerichtet«, er hat »die deutsche Literatur für ein paar Jahrhunderte gelähmt«; sein drittletzter Ausspruch ist: »Ich bin der Vernichter des Deutschen«, und sein letzter: »Mehr nicht!«
Diese pessimistische Botschaft wird nun aber nicht mit schwerem Ernst dargeboten, sondern als makabrer Scherz inszeniert, als Komödie: Das gilt sowohl für die witzig-phantastische Erfindung von Goethes Einladung an Wittgenstein, ausgerechnet am 22. März 1832 nach Weimar zu kommen – obwohl den Leuten um Wittgenstein Goethe unbekannt ist –, wie auch für das Sprachspiel der angeblichen beschönigenden Vertauschung der Wahrheit »Mehr nicht!« gegen die Lüge »Mehr Licht!«, die Goethes Gehilfen zugeschoben wird.
Gegen die überkommene Tradition des lichten Goethe wird dieser hier einer anderen, dunklen Traditionsreihe zugeordnet, in der sich neben Wittgenstein Schopenhauer berindet, und auch Stifter, der damit für die Pessimisten in Anspruch genommen wird: »Ich habe«, so der Bernhard'sche Goethe, »keinen anderen Wunsch mehr. Wenn Schopenhauer und Stifter noch lebten, würde ich diese beiden mit Wittgenstein einladen, aber Schopenhauer und Stifter leben nicht mehr, so lade ich allein Wittgenstein ein«.
Damit setzt sich auch hier die Figur der »Alternativen ohne Alternative« durch, die ich an anderer Stelle als eine verbindende Gemeinsamkeit zwischen Thomas Bernhard und Franz Kafka herausgearbeitet habe.
Das Lachen ist bei ihnen dieser Figur zugeordnet. Dem entspricht, was gleichlautend von Kafkas unbändigem Lachen, .als er aus dem „Prozeß“ vorlas, und vom lauten Lachen Bernhards von ihm selbst berichtet wird: »schon während dem Schreiben oder wenn ich es nachher beim Korrekturlesen les' … Ja, zum Beispiel, wenn man „Frost“ liest«.
Der gleiche Vorgang, den wir in „Goethe schtirbt“ beobachtet haben, vollzieht sich in „Über allen Gipfeln ist Ruh“, nur noch weiter ausgreifend.
Das als Inbegriff seiner Poesie, der Poesie überhaupt, meistzitierte und meistparodierte Gedicht Goethes, dessen »ruhiger« Anfang den Titel für Bernhards Komödie liefert, weist mit seinem Ende zweideutig hin auf die Ruhe des Todes.