Ivan Illich
(1926–2002) · Sein Leben, sein Denken
Martina Kaller-Dietrich, Ivan Illich
edition seidengasse: Enzyklopädie des Wiener Wissens: PortraitsISBN: 978-3-85252-871-7
21×15 cm, 256 Seiten, m. S/W- u. farb. Abb., Hardcover
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Kurzbeschreibung
In der globalisierten Welt hat jeder Mensch das Recht auf institutionalisierte Erziehung, Gesundheit, Information und ein Auto. Brauchen wir das wirklich? Ivan Illich dachte vor, was wir heute nachdenken. Er polemisierte gegen Schulen, Spitäler, Autobahnen, Entwicklungshilfe, Geschlechtergleichheit. Er wurde weltberühmt und wieder vergessen.
Geboren 1926 in Wien, musste er vor den Nazis fliehen. Illich studierte Geschichte und Theologie in Rom und Salzburg. Danach zog der priest educator nach New York. Es folgten zwei Jahrzehnte in Puerto Rico und Mexico. Dort leitete er von 1961 bis 1976 das berühmte CIDOC, Centre for Intercultural Documentation. Von der Kirche, die ihm die Heimat ersetzt hatte, wandte sich Illich ab, als im Lateinamerika der 1960er Jahre der gesellschaftliche Aufbruch in der Theologie der Befreiung stattfand. Er lehrte an Universitäten in aller Welt. 2002 starb er in Bremen.
Die Historikerin Martina Kaller-Dietrich beschreibt den Lebensweg dieses außergewöhnlichen Gelehrten. Nicht um ihn ins Museum zu stellen, sondern um mit seinen heute noch gültigen Thesen einen schöpferischen Schock auszulösen.
Illich hat seine Heimatstadt verlassen, sein Porträt ist zurückgekehrt, als erster Band der neuen Reihe der Wiener Enzyklopädie.
Leben und Werk des Ivan Illich lesen sich entlang der turbulenten Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus Nazi-Österreich musste er fliehen und studierte in Italien Theologie und Philosophie. Er wurde zum katholischen Priester geweiht. Bevor er 1951 nach New York ging, promovierte er in Salzburg aus Geschichte. Als Seelsorger traf er in einem New Yorker Armenviertel auf die Puerto Ricanische Einwanderergemeinde. Durch den Alltag dieser Menschen fand er zu seinen Lebensthemen: Schulen sind Rituale, die nicht gegen die Armut helfen. Spitäler machen krank. Der Individualverkehr verschlechtert die Transportsituation in den Städten. Der Energiekonsum ist ungerecht verteilt.
1961 gründete Illich sein Interkulturelles Dokumentationszentrum in Mexiko. Dort trafen die Blumenkinder auf Lehrer aus Lateinamerika, die ihnen erklärten, dass Entwicklungshilfe eine Neuauflage der bekannten Kolonialisierungserfahrung sei. Illich mahnte die Katholische Kirche, sich nicht von der Seelsorge abzuwenden, um zur Hilfsgüterverwalterin zu verkommen. Vergeblich. Seine offene Kritik bescherte seinem Zentrum ein päpstliches Interdikt. Illich legte das Priesteramt zurück. In seinen Polemiken aber benutzte er seine Kenntnisse der religiösen Praktiken und verurteilte die Glaubenssätze und Heilsversprechungen des Industriezeitalters als pseudoreligiöse Rituale.
Illich wurde weltberühmt. Er rechnete seinem Publikum vor, dass eine Steigerung der Produktion von Konsumgütern sowie des modernen Dienstleistungsangebots zu größerer Abhängigkeit führt. Visionär sprach er vom Gesetz der Kontraproduktivität. Aus selbst gewählter Distanz könne auch der Einzelne die Grenzen des Wachstums erkennen und die Instrumente der Konvivialität (er)finden.
Illich legte sich auch mit der US-amerikanischen Frauenbewegung an. Ihr Emanzipationsverständnis trage dazu bei, die historischen und kulturellen Unterschiede zu verwischen. Das Ende seiner Popularität war eingeläutet. Die kritischen Intellektuellen in Europa und Amerika stempelten Illich zum Pessimisten und Eigenbrötler. Als Hochschullehrer arbeitete er bis zu seinem Tod über die Geschichte des Lesens oder die Vermarktung von Wasser zur Ware, die in Plastikflaschen verkauft werden kann.
[Enzyklopädisches Stichwort]
[edition seidengasse · Enzyklopädie des Wiener Wissens · Porträts, Bd. I |
Hrsg. von Hubert Christian Ehalt für die Wiener Vorlesungen, Dialogforum der Stadt Wien]
[Mit einem Vorwort von Wolfgang Sachs]
Rezensionen
Gerd-Rainer Horn: [Rezension]Diese Studie ist die allererste umfassende Biographie des All-Round-Wissenschaftlers, Theologen und Pädagogen sowie Modernisierungskritikers Ivan Illich. Allein diese Tatsache sollte die Aufmerksamkeit nicht nur von Historikern, sondern ebenfalls von Sozialwissenschaftlern unterschiedlichster Provenienz – sowohl geographisch als auch intellektuell – auf dieses Buch richten. Denn, obwohl die allermeisten Leser und Leserinnen dieses Bandes sicherlich bereits in vielen verschiedenen Zusammenhängen von Illich gehört haben, stand eine Gesamtdarstellung bisher noch aus. Zukünftige Biographien Ivan Illichs werden sich an den Maßstäben, die dieses Buch gesetzt hat, messen müssen.
Bisherige Studien zu Illichs Werken und Taten haben zumeist einen bestimmten Teilaspekt seiner Hauptschaffensperiode unter die Lupe genommen. Seine Jugendzeit und seine Ausbildungslaufbahn wurden daher oft ausgeblendet. Martina Kaller-Dietrich schließt unter anderem auch diese Lücken. Dalmatinischer und österreichisch-jüdischer Abstammung, wuchs Ivan Illich zweisprachig auf. „Kroatisch war seine Vatersprache, Deutsch seine Muttersprache.“ (S. 42) Vielleicht war es diesem Umstand zuzuschreiben, dass Illich zeit seines Lebens ein Sprachgenie war, dem Englisch und Spanisch genauso vertraut waren wie Italienisch. Nach dem Abitur 1942 an einem florentinischen Gymnasium studierte der spätere Wissenschaftskritiker drei Jahre lang Chemie. Im Anschluss vollzog Illich allerdings eine der ersten von vielen radikalen Kehrtwendungen: er schlug die Priesterlaufbahn ein, studierte an einer der Nobeluniversitäten der katholischen Kirche, der Gregorianischen Universität in Rom, und graduierte mit summa cum laude. Einflussreiche Persönlichkeiten aus dieser Zeit, mit denen Illich damals direkte Kontakte hatte, waren unter anderem der fortschrittliche katholische Philosoph, Jacques Maritain, sowie Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI, beide in diesen Jahren stark durch den damals in vielen Kreisen kuranten Linkskatholizismus beeinflusst, bzw. Mitgestalter dieser transnationalen sozialen Bewegung und Geisteshaltung. Linkskatholisches Gedankengut blieb von nun einer der roten Fäden, die Illichs Werdegang charakterisierten.
1951 nahm Illich eine Stelle als Seelsorger in einer puertoricanischen Gemeinde in der Weltstadt New York an. Selbst ein Grenzgänger zwischen Kulturen, nahm Illich auf diese Weise zum ersten Mal hautnah Kontakt mit dem hispanischen Kulturkreis Nord- und Mittelamerikas auf, der die folgenden Jahrzehnte seines Lebens prägen sollte. Schon während seiner New Yorker Schaffensperiode kamen eine Reihe von weiteren Konstanten in Illichs Weltanschauung ans Tageslicht. Kluger Beobachter seiner jeweiligen Umwelt, wurde Illich sicherlich durch die äußeren Umstände seiner Tätigkeit im puertoricanischen Stadtviertel darauf aufmerksam, dass Liturgie nicht nur als Ritual in religiösen Zeremonien angesehen werden muss, sondern auch das Zusammenspiel mit populären Praktiken oder Bräuchen suchen muss, um Erfolg zu zeitigen. Gleichzeitig ergaben sich aufgrund des akuten Kontrastes zwischen puertoricanischen kulturellen Praktiken und der US-amerikanischen Wirklichkeit frühe Einsichten in die Dialektik der Moderne, hier vor allem die zerstörerischen Auswirkungen US-amerikanischer Hegemonialkultur auf präexistente Volkskulturen. Auch das Wachstum des Kontrastes zwischen arm und reich tat sich für Illich in seiner unheilversprechenden Gesamtdimension rasch hervor. Und ein ebenso wichtiger Aspekt seines politisch-kulturellen Selbstverständnisses ging ebenfalls aus dieser Situation hervor: seine Einsicht, dass, trotz ansteigender Ungleichheit, die Armen dieser Welt nicht gegen dieses Schicksal revoltieren werden. Sie seien, so Illich, in Kaller-Dietrichs Worten, von „Entwicklungsverheißungen geblendet“ (S. 55), und es wäre daher müßig, von ihnen dauerhaft erfolgreiche emanzipatorische Handlungen zu erwarten.
Mit diesen Aussagen formulierte Illich bereits in den 1950er-Jahren die Grundfesten seiner Überzeugungen für die folgenden vier Jahrzehnte. Einsichten, die sich einerseits als hellseherisch erwiesen, aber gleichzeitig von vielen zeitgenössischen Beobachtern als defaitistisch eingestuft wurden – gerade auch von jenen, die prinzipiell mit Illichs Zivilisationskritik kritisch übereinstimmten. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines radikalen gesellschaftlichen Kurswechsels, aber gekoppelt mit der Erkenntnis der großen Schwierigkeiten, solch einen Umschwung herbeizubringen, ließen Illich in der Folgezeit als permanenten Außenseiter erscheinen, trotz seiner vielfältigen Bemühungen auf sein gesellschaftliches und intellektuelles Umfeld Einfluß zu gewinnen. Je nachdem wogegen sich der Zielpunkt seiner Kritik richtete, gewann oder verlor er Unterstützung und Sympathien in den unterschiedlichsten Milieus.
Als Kritiker des sogenannten Fortschritts wurde Illich in westlichen Kreisen vor allen Dingen bekannt als radikaler Pädagoge, der die Regelschule, was den Erhalt und den Ausbau von konvivialen gesellschaftlichen Praktiken angeht, als genauso destruktiv einschätzte wie eine Atombombe. Illich, der einerseits Bildung und Lernen als einzig möglichen Ausweg aus der Einbahnstraße der Modernisierung ansah, verstand das institutionalisierte Lernen in verschulten Schulen als das genaue Gegenteil von Emanzipation. Von daher liegt es auch nahe, dass Illich die Ideologie und Praxis von Entwicklungspolitik genauso prinzipiell ablehnte wie so manche Absichtserklärungen und Taten von Befreiungstheologen in Lateinamerika. Denn letztlich würde diese nur wiederum die Institutionalisierung der Kirche fördern. Denn die grundlegende Position dieser, wenn auch geläuterten, Kirche stand im Selbstverständnis der Befreiungstheologen außer Streit. Ebenso sah Illich Entwicklungshilfe letztendlich als Stärkung der Hegemonie der Industrienationen.
Befreiungskämpfer in der Dritten Welt wurden von Illich ebenso als Statthalter einer entwicklungsfreudigen Ideologie mit Modernisierungswünschen angesehen. Zu einer Zeit, wo Guerrillakämpfe in der Dritten Welt nicht nur im Trikont viele Sympathisanten fanden, sah Illich das Heil nicht in einer wie auch immer stattfindenden sozialen Revolution: „Ich bin für eine Revolution in den Institutionen. Ich sehe die Aufgabe nicht unmittelbar darin, die politische Macht zu verändern oder zu erobern. Kein Machtwechsel kann die Unterentwicklung Lateinamerikas stoppen. Ob wir westliche oder sowjetische Entwicklungshilfe erhalten, ist kaum von Bedeutung. Ich sehe die Aufgabe der Revolution, das Bewußtsein zu verändern. Nur die Selbstbefreiung von eingelernten Notwendigkeiten öffnet den Weg in die Zukunft.“ (S. 119)
Laut Illich war die Einsicht in die Notwendigkeit eines Umdenkens nur durch freies Lernen zu vermitteln. Und freies Lernen war für Illich das genaue Gegenteil von den allüberall grassierenden Lernfabriken, die Schulen oder Universitäten genannt werden. Illich verwandte sehr viel Zeit und Tatkraft damit, eine artgerechte „Umgebung fürs Lernen“, einen „Treffpunkt für Humanisten“ (S. 128) zu schaffen. Das von Illich von 1961 bis 1976 in Cuernavaca, Mexiko, geleitete „Zentrum für Interkulturelle Dokumentation“ (CIDOC) mag in dieser Hinsicht als das Lebenswerk Illichs angesehen werden. Und Kaller-Dietrich analysiert und beschreibt nicht nur im zentralen zweiten Kapitel ihrer Arbeit die Vorgänge am CIDOC, sondern die Autorin liefert im Anhang erstmals eine kommentierte Bibliographie der verschiedenen im CIDOC erschienenen Schriftenreihen.
Die wahren Herrscher dieser Welt waren für Illich aber nicht Minister oder Polizisten, sondern die allgegenwärtigen Experten, die durch ihre fachliche Ausbildung das ‚radikale Monopol’ in ihrer jeweiligen Branche ausüben, und so der großen Mehrheit von Menschen ihr Selbstvertrauen in ihre eigenen Entscheidungen nehmen. Zusammen mit dem allseits grassierenden Marktfetischismus bringen, so Illich, die ebenso universellen Heilserwartungen in das Expertentum millionenfach verunsicherte Existenzen hervor. Menschen „könnten und wollten bald nicht mehr selbst bestimmen, was sie brauchten“. (S. 157). Anstatt selber Entscheidungen zu treffen, lassen Menschen andere für sie entscheiden. Anstatt selber Sport zu treiben, werden mediengerechte Idole angehimmelt. Anstatt selber Nächstenliebe zu üben, werden „Versorgungseinrichtungen der Nächstenliebe“ (S. 187) errichtet. Den Verlust menschlichen Selbstvertrauens rückgängig zu machen, war Ivan Illichs höchstes Ziel – und der rote Faden, der sich durch sein Gesamtwerk zieht.
Wie ebenfalls bereits angedeutet, fand Illich in seiner oft beissenden Kritik der „Liturgie der Modernisierung“ (S. 155) allerdings kaum Mitstreiter, die den gesamten Weg seiner Kulturkritik mitzugehen bereit waren. Und, auch dies ist eine der Eigenschaften dieses inspirierenden Buches: die Autorin macht deutlich, wie sich Ivan Illich immer wieder in eine Art Selbstisolation manövrierte, eine Tendenz, die Ivan Illich zu einer tragischen, intellektuellen Figur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts machte. Oft war er späteren Befürwortern von Teilaspekten seiner allgemeinen Kulturkritik, wie zum Beispiel im Falle seiner Ökologiekritik, weit voraus, doch war Ivan Illichs kritische Aufarbeitung der Dialektik der Moderne derart konsequent und umfassend, dass er sich vor allem in seinen letzten Lebensjahren oft als ein aussichtsloser Einzelkämpfer wiederfand. Lange Zeit war es „seine sprühende Lebendigkeit und sein legendäres Charisma“ (S. 128), die Illich zum vielgelesenen und oft auf internationale Konferenzen eingeladenen Kommentator machte. Doch gekoppelt mit seiner kompromisslosen Ablehnung anderer Alternativen zum status quo, geriet Ivan Illich, insbesondere nach dem Abklingen des gesellschaftlichen Aufbruchs der 1960er- und 1970er-Jahre, langsam in Vergessenheit.
Es ist Martina Kaller-Dietrichs großer Verdienst, Ivan Illich wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Ihr einfühlsamer und lesbar geschriebener Text wird, wie eingangs bereits unterstrichen, auf lange Zeit hinaus einen Maßstab für Illichforscher gesetzt haben. Das auch klug illustrierte Buch verdient die höchste Aufmerksamkeit der interessierten Öffentlichkeit, nicht nur der deutschsprachigen.
(Gerd-Rainer Horn, Rezension für H-Soz-u-Kult. Humanities – Sozial und Kulturgeschichte, Mailingliste der deutschen Geschichtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: H-Soz-Kult, 15. Januar 2010)
https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-13814
Hans Schelkshorn: Ein Pionier interkulturellen Denkens – Ivan Illich
Martina Kaller-Dietrich präsentiert in dieser verdienstvollen Monographie die erste umfassende Biografie und chronologische Darstellung des Denkens von Ivan Illich, der als ein Pionier interkulturellen Denkens angeshen werden kann. Kaller-Dietrich kann sich in dieser Arbeit nicht nur auf eine intensive Archivarbeit und Interviews mit vielen Weggefährten, sondern auch auf persönliche Begegnungen mit Ivan Illich stützen.
Zum ersten Mal wird auch die frühe Zeit Illichs nachgezeichnet, in dessen Herkunft und Kindheit sich die kulturelle Vielfalt Mitteleuropas spiegelt (S. 37–74). Als Halbjude mit serbischen Wurzeln musste Illich mit 14 Jahren 1941 aus Wien vor den Nazis fliehen; im selben Jahr starb sein Vater in Kroatien. In Florenz entscheidet sich Illich zum Priesterberuf, was ihn auf die Gregoriana in Rom führt. Doch Illich lehnt eine kirchliche Karriere ab. In den 1950er Jahren arbeitet er als Seelsorger für Einwanderer aus Puerto Rico, wenige Jahre später ist er als Erziehungsreformer in Puerto Rico tätig. Von entscheidender Bedeutung war für Illich die von Kennedy ausgerufene „Allianz für den Fortschritt“, die die Welt in entwickelte und unterentwickelte Länder aufteilte. Die Modernisierungsstrategien seiner Zeit lasse Illich zu einem der radikalsten Fortschrittskritiker nach dem 2. Weltkrieg werden. Bereits 1960 gründet Illich in Cuernavaca (Mexiko) das Center for intercultural Formation (CIF), wenige Jahre später in Center for Intercultural Documentation umbenannt, die nicht auf eine Totalverweigerung gegenüber Institutionen wie bei den Hippies, sondern auf eine Kritik an der Expertokratie abzielte. Die Eigenständigkeit Illichs zeigt sich, wie Kaller-Dietrich detailreich beschreibt, auch im kirchlich-theologischen Kontext dieser Zeit. Illich kam in Konflikt mit dem Vatikan, der schließlich zur Niederlegung seines Priesteramtes führte (S. 92ff): Zugleich stand er jedoch trotz enger Beziehungen zu Befreiungstheologen „ihrer Option für die Armen genauso skeptisch gegenüber, wie er sich von allen Weltrettungsformeln distanzierte.“ (S. 110) Illich setzte nicht auf revolutionäre Kämpfe, sondern auch gezielte Reformen vor Ort, wie z.B. Paulos Freires Alphabetisierungsprogramm, und eine radikale Umgestaltung des Bildungs- und Gesundheitssystems.
Im 3. Kapitel (S. 137–184) wendet sich Kaller-Dietrich den Hauptschriften von Illich zu, die in rascher Folge in den frühen 1970er Jahren erscheinen: „Descooling Society“ (1971), „Tools for Conviviality“ (1973), „Energy and Equiy“ (1974), „Limits to Medicine“ (1976). Kaller Dietrich stellt einerseits die Grundthesen von Ivan Illich heraus, die sich sachlich mit den Analysen von Foucaults zur Disziplinargesellschaft überschneiden. Wie Foucault unterläuft Illich die Rhetorik radikaler Kapitalismuskritik und lenkt den Blick auf die Machtphänomene der Industriegesellschaft, die alle Lebensbereiche im Namen der Effektivitätssteigerung umgestaltet. Auf diese Weise verbindet sich die Kritik an der Verschulung der Gesellschaft mit einer immer radikaleren Ablehnung zentraler Institutionen der Industriegesellschaft, die den einzelnen standardisierten Kriterien unterwirft und zu einer globalen Gleichförmigkeit der Lebensformen führt. „Lernen, heilen, sich fortbewegen, wohnen – waren aus seiner Sicht einmal eigenmächtig bestimmte Tätigkeiten des Menschen, und das sollte, wenn möglich, wieder so werden.“ (S. 138) Zugleich führt Kaller-Dietrich in die vilefältigen Debatten ein, in denen Illichs Institutionenkritik rezipiert und auch kritisiert worden ist, wie z.B. die Auseinandersetzung mit dem indischen Guru Jiddu Krishnamurti (S. 150ff) oder mit feminsitischen Denkerinnen (S. 158–184).
Am Schluß des Bandes findet sich nach einem Blick auf die letzte Lebensphase von Ivan Illich eine Kurzbeschreibung der Schriftenreihe am Centro Intercultural de Documentacion (1966–1974), die am österreichischen Lateinamerika-Institut eingesehen werden können.
Für eine interkulturelle Philosophie ist Illichs Leben und denken in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits fällt die praktizierte Interkulturalität ins Auge, die retrospektiv schon biographisch durch seine Herkunft und frühen Entwurzelungen vorgezeichnet ist. Andererseits verbindet Illich ein interkulturelles Engagement mit einer radikalen Kritik der Moderne, die vor allem ihre zerstörerische Grenzenlosigkeit herausstellt. Inzwischen haben die katastrophischen Dimensionen der Entgrenzungen der Moderne apokalyptische Dimensionen angenommen. Das Denken von Ivan Illich ist daher eine bedeutende Quelle von Inspirationen für die gegenwärtige Suche nach einer Kultur der Selbstbegrenzung, auch wenn seiner Ablehnung der Industriegesellschaft nicht bis zum Letzten folgt.
(Hans Schelkshorn, Rezension in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 23/2010)
https://www.polylog.net/fileadmin/docs/polylog/23_rez_Schelkshorn2.pdf#page=3
Peter Trummer: [Rezension]
Illich, ein unbequemer Querdenker, und doch überzeugende prophetische Gestalt, sprach elf Sprachen fließend, war weniger „Wissenschafter“ als Verfasser von Pamphleten und weltweiter charismatischer Lehrer. Als Wiener Jude konnte er den Nazis entkommen, wurde Jesuit, ging nach New York, war in der Einwandererseelsorge tätig und leitete von 1961–76 das berühmte CIDOC, das Zentrum für interkulturelle Dokumentation in Mexiko, das von Rom „abgedreht“ wurde, obwohl Illich sich nie der Befreiungstheologie anschloss, weil er weltliche Aktionen der Kirche ablehnte. Er verabschiedete sich als Priester, hielt am Zölibat fest, publizierte weiterhin zu brisanten Themen: Er nahm die Konsumgesellschaft, das Schul-, Verkehrs- und Gesundheitswesen ebenso aufs Korn wie die Entwicklungshilfe, wurde von den Feministinnen heftigst ausgebuht (und oft erst nach Jahrzehnten rehabilitiert). Seiner Ablehnung einer entmündigenden und krankmachenden Medizin blieb er auch im eigenen Krebsleiden treu, linderte aber seine Schmerzen mit wohldosierten Heroingaben. Sein in alle Welt verstreutes Werk ist am vollständigsten am Österreichichen Lateinamerikainstitut dokumentiert, wo es die Historikerin Kaller-Dietrich gründlich aufarbeitete und somit die umfassendste Biographie mit Bildmaterial vorlegt. Es lohnt sich, das Buch zur Hand zu nehmen und über Illichs Ideen und Provokationen nachzudenken. Sie sind noch immer hochaktuell. Einige Versehen in „Randbereichen“, wie Albertus Magnus als Alchemist (47) oder Griechisch (195) wären in einer Neuauflage zu bereinigen.
(Peter Trummer, Rezension für: Bücherbord. Kurzinformationen über Neuerscheinungen für Seelsorger, Religionslehrer, Büchereileiter u.a., 37. Jahrgang, 1. Folge, März 2012)