
Grenzlinien
Roman
Hedwig Hawle
ISBN: 978-3-85252-181-7
21 x 15 cm, 146 Seiten
€ 15,00 €
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Kurzbeschreibung
Auf der Ladefläche des alten Transportautos hatten sie zwischen schmierigen Ölfässern ihren spärlichen Hausrat verstaut. Einen frisch gefüllten Strohsack, der als Schlafunterlage dienen sollte. Ein Tuchent mit Kopfpolster und etwas Bettwäsche waren in einem Leintuch eingebunden. Der kleine Holztisch – er hätte viel erzählen können! Eine Heimarbeiterin hatte früher einmal ihre Handstrickmaschine darauf befestigt. Sie fertigte für einen Strickereibetrieb Handschuhe an. Oft mußte die schlecht bezahlte Arbeit zu einem bestimmten Termin abgeliefert werden. Das erforderte dann noch mehr Fleiß und Ausdauer. Manchmal hatte die Strickmaschine ihre Tücken. Eine schadhafte Maschinnadel mußte gefunden und ausgewechselt werden. Die Spannung des Wollfadens stimmte nicht, oder der Faden riß, weil das Material schlecht war. Wie sollte die Heimarbeiterin das schaffen? Den Zeitverlust konnte sie nur mit zusätzlichen Nachtstunden ausgleichen. Beim matten Licht einer Petroleumlampe war das für sie sehr anstrengend. Auch das alte Küchenkastl hatte schon so manches erlebt. Ein Erbstück von den Eltern, die es einmal von einem Trödler gekauft hatten. Es war aus massivem Holz hergestellt und konnte daher schon einigen Übersiedlungen standhalten. Kleine Schäden, die es dabei erlitt, wurden durch einen neuen Anstrich ausgebessert. Aber es war noch immer gut genug für ein paar Kochtöpfe, Teller und verschiedene Küchengegenstände, die man für den täglichen Gebrauch darin unterbringen konnte. In einer Kiste waren Unterwäsche, Handtücher und andere Gebrauchsartikel verpackt. Zum Aufhängen von Kleidungsstücken mußte vorläufig ein selbstgebasteltes Holzgestell dienen.
Das zusammenlegbare Gitterbett mit Matratze nahm, an die Bordwand gelehnt, nicht viel Platz ein. Wie hatte sich die Frau damals gefreut, als es ihr der Vater ganz überrasehend nach Hause gebracht hatte! Für deine kleine Tochter, hatte er so nebenbei gemeint. Aber wo er es in der Nachkriegszeit hatte auftreiben können – das hatte er für sich behalten. Auch der alte Kinderwagen, der der Frau bisher zur Aufbewahrung von Lebensmitteln diente, konnte noch untergebracht werden.
Um sich Unannehmlichkeiten zu ersparen, hatte der Fahrer des Lastwagens dem jungen Familienvater geraten, es sich auf der Ladefläche unter der Abdeckplane bequem zu machen, wenn nötig, sich zu verstecken. Die Frau, die das zweite Kind erwartete, und die dreijährige Tochter ließ er auf eigene Gefahr ins Führerhaus setzen. Dort konnte er sie notfalls als ihm zugehörig durch die Kontrolle an der Demarkationslinie bringen.
Es war ein nicht ungefährliches Unternehmen, aber in der Zeit nach dem Krieg die einzige Möglichkeit für die junge Familie, von der russischen in die amerikanische Besatzungszone zu gelangen. Sie fühlten sich wie Flüchtlinge – die sie im eigentlichen Sinne ja auch waren …