
Facetten 1997
Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz
Peter Leisch
edition linzISBN: 978-3-85252-184-8
22 x 13 cm, 234 S.
18,00 €
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Kurzbeschreibung
[Hrsg. von Peter Leisch]
Elazar Benyoetz
Gewisssen ist eine Gedächtnisfrage
Festrede in sechs Einschnitten
Ich habe das Wort und die Rede das Sagen hat die Sprache Die Worte rollen hin und her wie einst die Züge, sie finden von selbst den Weg dahin, müssen nicht gelenkt werden; wie sie schon immer waren, bleiben sie ohne Bedeutung, ausgesprochen klar.
Wer gedenken will und sich erinnern kann, der braucht aus der Geschichte nicht zu lernen. In der Erinnerung nimmt auch Geschichte ihren Anfang
Am Anfang aller Geschichte steht die eigene Nicht nur durch mich, auch mit mir kommt etwas zur Sprache
Alles nimmt seinen Lauf und geht seinen Weg bis wir es in Frage stellen
Man antwortet nicht auf eine Frage, man antwortet dem Fragenden
Das Erträgliche eines Lebens ist in diesem selbst nicht enthalten
Otto Frank sagte: „Ich habe alles verloren, außer dem Leben". So wenig wiegt das Leben in einem solchen Satz.
Ob ein- ob ausgeklammert, ein letzter Rest, ein kläglicher. „Ich habe alles verloren, außer dem Leben", sagte Otto Frank und ging durch dieses mit seinem toten Kind und belebte es in Wort und Bild und in Millionen jungen Gemütern.
Es gab für Arme Frank alles und alles zum Verlieren, aber, was zu verlieren war, hatte sie gebucht. Ein Buch, ein Haus, ein Ende. Das macht diesen Namen aus, der zu einer unversiegbaren Energiequelle geworden ist. Zart an Alter, zart an Wuchs, ein Kind - und lange alleinige Trägerin des riesigen, abbröckelnden Gebäudes des Gedenkens.
Ihr Gesicht, oft neben dem Kafkas zu stehen kommend, ist das jüdische Antlitz, wie man es seit fünfzig Jahren kennt. Dieses hatte nicht nur die Hybris eines lOOOjährigen Reichs bezwungen, sondern auch das „Stürmer"-Bild des Juden verwischt. Das zarte, anmutige, kluge Gesicht des Mädchens Arme Frank ist das Vermächtnis des europäischen Judentums an die Welt geworden, bis in den fernsten Osten hinein. Arme Frank ist das Lächeln Kafkas In Erinnerung gekleidet, in Erinnerung gerufen Man kleidet sich in seine Erinnerung, die man zum Teil überliefern, im ganzen aber weder vererben noch übertragen kann. Erinnerungen entstehen um den eigenen Namen herum und werden ihm zu eigen. Weil man seinen Namen hat, wird man in Erinnerung gerufen. Man versinkt auch in seinen Erinnerungen:
das ist das Werk des Vergessens; es geht in Erinnerungen vor sich.
Arme Frank sagte: „Erinnerungen sind mehr als Kleider".
Wieso mehr? Wodurch? Worin?
Erinnerung ist paradiesischen Ursprungs, sie beginnt beim Namen, mit der Namensgebung, mit der Benennung. Was mit einem Namen belegt wird, geht in die Erinnerung ein und kann immer wieder in Erinnerung gerufen werden.
Es war Adams heilige Beschäftigung, alles, was nackt und bloß in der Schöpfung herumlag oder umherirrte, mit Namen zu belegen, zu beseelen, wortfest zu machen.
Göttlich ist das bloß Vorhandene, menschlich - das in Deckung Gebrachte. Das Herz eines Dinges ist sein Name, der Name eines Menschen - sein nicht zu widerrufender Ruf.
Was uns heute in Erinnerung ruft und hier versammelt, ist der Name Anne Franks, die klar und wahr sagte:
Erinnerungen sind mehr als Kleider. So wars schon im Paradies. Adam hatte noch keine Kleider, als er Geburtshelfer der Erinnerung wurde. Und dabei ist es geblieben: die erste Kleidung eines Menschen ist der Name, mit dem er bedacht und bedeckt wird; der Name ist die Haut über der Haut.
Alle Taten und Werke stehen im Dienst des Namens, alles was sich ausdehnt und einprägt. Der ganze Mensch ist sein ganzer Name. Das Wesen verändert sich mit dem Namen. Was durch den Namen zum Wesen geworden ist, verändert sich mit dem Namen in seinem Wesen.
Der Name ist verletzlich wie die Haut, doch er altert nicht und schrumpft nicht ein.
„Im Anfang" heißt das erste Buch Mosis, „Namen" das zweite, „Er rief" das dritte: das ist die Reihenfolge und so entsteht der Sinn.
Alle Wärme kommt von der Erinnerung, Erinnerungen aber sind mehr als Kleider.
Anne Frank - dieser Name beleuchtet und erwärmt die Menschen seit fünfzig Jahren.
Man versammelt sich um einen Namen und es wird Licht. Die sich nicht erinnern wollen, sind kalte Menschen; sie wollen nicht „mehr Licht", sondern auslöschen was man nicht vor Augen hat, kann man hinter sich nicht bringen. Mit der Lüge macht man sich Luft, mit der Wahrheit atmet man auf. Falsche Propheten sprechen nur von der Hoffnung, aber es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Und hinfällig ist alles, was auf Gott hofft und nicht baut…