Dorn im Himbeerschlag
Zwielicht der Kindheit · Prosa
Wilhelm Szabo
ISBN: 978-3-85252-400-9
21 x 15 cm, 160 Seiten, Hardcover
18,00 €
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Kurzbeschreibung
Meine Ziehmutter hat mir oft erzählt, wie sie mich aus dem Findelhaus holte. Das war eine der wenigen Reisen, die sie in ihrem Leben unternahm. An einem kalten Aprilmorgen brach sie auf, nicht ohne sich vorher besprengt und ihre paar Hühner und Geißen der Wartung ihrer Nachbarin Anna Geizenauer empfohlen zu haben. Die Ziehmutter hatte Glück, denn sie war noch keine halbe Stunde gewandert, als sie ein Stechviehhändler aus der oberen Gegend, der mit Kälbern unterwegs war, auf sein Gefährt aufsitzen ließ.
So gelangte sie in die fünf Wegstunden entfernte Bezirksstadt Krems an der Donau. Dort übernachtete sie bei der Kapellmeisterswitwe Rosa Königstätter, einer mutterseitigen Großtante von mir, worauf sie am anderen Morgen mit dem Zug nach Wien weiterfuhr. Es war die erste Eisenbahnfahrt der Ziehmutter. In Wien blieb sie bei entfernten Verwandten, einem Werktischler und seiner Gattin, die sie vom Bahnhof abholten und es sich nicht nehmen ließen, ihr zwei, drei Tage hindurch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Sie bestiegen mit ihr den Stephansturm, fuhren sie in den Prater und nach Schönbrunn. Stundenlang konnte sie später von jenem Aufenthalt in der Kaiserstadt erzählen, wobei sie besonders ausführlich bei einer Fahrt mit dem Riesenrad verweilte, zu der ihre Verwandten sie erst nach langem Zureden hatten bewegen können.
Am vierten Tag fuhr sie mit ihrer Gastgeberin in das Findelhaus. Obwohl sich die Werktischlersgattin in allen Bezirken Wiens gut auskannte, brauchten sie ziemlich lang, bis sie sich zu dem langgestreckten Gebäude mit der Aufschrift »Zentralkinderheim« endlich durchgefragt hatten. Die Ziehmutter wurde an Dutzenden Säuglingsbetten vorübergeführt. Man wollte ihr die verschiedensten Kinder aufschwatzen. Eines davon, ein pausbäckiges, gelbhaariges Ding, das wie eine Puppe aussah, gefiel ihr dermassen, daß sie es am liebsten mit sich genommen hätte. Doch statt mit mir, mit einem anderen Pflegekind, heimzukommen, hätte bedeutet, einem gegenteiligen Versprechen, gegeben der Großtante, untreu zu werden, etwas, das zu tun, mit ihrer Geradheit und Ehrlichkeit nicht vereinbar war. Im Findelhaus befand ich mich erst wenige Tage. Vorher war ich bei ungarischen Zieheltern in einem Dorf unweit Steinamanger gewesen. Die Leute, arme Kleinhäusler, hatten mich gut gehalten, doch ein Gesetz, wonach Kinder deutschsprachiger lediger Mütter in deren Sprache erzogen zu werden hatten, machte, daß ich ihrer Obhut, sehr zum Leidwesen der beiden, entzogen wurde.
Ich war damals noch keine zwei Jahre alt, soll aber in der Sprache meiner ersten Zieheltern schon sehr viel geplappert haben. Auf der Rückfahrt der Ziehmutter unterhielt ich mit meinem Geschwätz, das niemand verstand und das den Passagieren wunderlich in den Ohren klang, das ganze Abteil. In Krems kehrte die Ziehmutter auf einen Teller warme Suppe beim Kreuzwirt ein. Dann packte sie mich mit einer dicken wollenen Gugel, die gut wärmte, auf ihren Rücken und machte sich mitten unter heftigem Schneetreiben auf den Heimweg …