
Das leere Kuvert
Gedichte
E. A. Richter
ISBN: 978-3-85252-460-3
21 x 15 cm, 128 Seiten, Hardcover
15,00 €
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Kurzbeschreibung
[Mit e. Nachw. von Wendelin Schmidt-Dengler.]
Morgen-Ich
die Leinwand entfernt, die nachts Leben und Kunst simuliert – mit Licht vollgesaugt schon im Bett, in der Einbildung des Tags: Menschen, Tiere, Häuser, Straßen. Birkenwipfel, Forsythien, winterweißer Fliederstrauch; rotgoldener Schimmer, auf der himmelsblauen Nachbarfassade. Darüber der Horizont, der den Blick hinter die Ebene saugt über die Hügel hinweg – Absenz, die berauscht. Danach faß ich mich wieder am See, eingeklemmt zwischen Bergerhebungen, mit erhobenem Kopf, scharfer Sicht auf Füße, Wegspuren, in den Augenwinkeln Felsabfälle, Gebüsch im Wind. Etwas saust aus der Luft, von weit oben, herab, schlägt auf, im Wasser verschwinden Beine. Nässe dringt ein, von unten, kühlt das Gedärm. Schau aus dem Fenster: etwas spiegelt, schwillt auf, überwölbt mich – mein ferner Körper ergänzt den Raum, kehrt in mich zurück
Rezensionen
Helmut Gollner: Nicht nach Elstern greifen!Die Rückkehr des Autors E. A. Richter mit „Das leere Kuvert“
Das Gedicht „Blutkreislauf“ hat einen (etwas hölzernen) Refrain:
„Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten / Eklatantes baut sich rundherum auf / Blut kehrt in sich selbst zurück“
So, könnte man sagen, produziert das Bewusstsein seine Welt und der Dichter sein Gedicht: Es ist das eigene Blut, das durch die Wirklichkeit treibt und diese zu mächtigen Bedeutungen aufpumpt. Lyrik ist durchpulste Welt; die Eklatanz ihrer Erscheinungen eine Folge des Blutdrucks. Aber „Blut kehrt in sich selbst zurück“: in seinem Zyklus schwillt die Welt auch wieder ab zu ihrem ich-armen Bestand.
Ich finde das tröstlich: die Bedeutsamkeit der Welt als Sache der eigenen Wallung zu erkennen und mit deren Rückgang den Dingen (und sich selbst) wieder Frieden zu ermöglichen.
Etwas von diesem Zyklus sehe ich in der Anlage und der Abfolge der Gedichte. Der Band beginnt mit ein paar Halbschlafgedichten: Gerade bei herabgesetzter Kontrolle entwickelt sich eine besonders präzise Wahrnehmung, die die Wirklichkeit von ihrer Konventionalität befreit und dem Ich ausliefert. „Schau aus dem Fenster:
etwas spiegelt,/ schwillt auf, überwölbt mich –“; „alles Herzfläche, Hirneinklang“. Die Welt wölbt sich dem Bewusstsein entgegen. Die begehrliche Wahrnehmungsschärfe des Blicks behalten die Gedichte auch dann, wenn sie nicht frühmorgens geschrieben sind. (Und später, an einem „Pariser Morgen“, betreibt der Autor das Aneignungsgeschäft des Dichters noch unverblümter: „schon in der Dämmerung vom Bett aus/ holte ich mir abermals Vögel heran,/ aus dem Astwerk der Platanen, fror sie ein“; dann holt er sich noch den Mond, lässt ihn schrumpfen und wieder wegtaumeln.) Ein unumschränktes Ich, sein Körper sogar, treibt aus „in alle Himmelsrichtungen“.
Eine Qualität von Richters Lyrik besteht aber doch darin, dass das Wahrgenommene üblicherweise nicht einfach im Ich verschwindet, sondern im Aufgerufenwerden, im hochkonzentrierten Akt der Bezeichnung, Substanz und Kontur behält. Ein großer Teil der Gedichte entwickelt eine Art Intensivimpressionismus, prosanahe, bisweilen stürzende Wahrnehmungsfolgen. Nichts hüpft oder tanzt in Richters Gedichten; ein Wortstrom, portioniert in Zeilen und einheitliche Strophen, in unprätentiösem Rhythmus, lyrisch völlig einleuchtend, zieht seine thematische Bahn. Prosa tut der Lyrik sowieso oft gut.
Natürlich ist das Hauptthema der Gedichte das Autoren-Ich. Aber über die Kapitel des Buches hinweg verzweigt es sich zunehmend in erlebte Welt: auf Reisen, in die Kindheit, das Elternhaus, in die Sache mit den Frauen und der Liebe.
Frauen: Zwei großartige Gedichte gelten einem synthetischen Rätselwesen Chantal, nicht aus Natur, sondern aus Männersehnsüchten zusammengesetzt, in Körperteile dissoziiert, „Rumpfpopanz“, „Fruchtsaugerin“, „Aidsbotin“, wie einem Pornoladen entstiegen, zugleich Projektionsfläche für das Keusche in den Männerwünschen; „und: sie lässt Wurzelmyzel/ unter der Erde in Häuser eindringen,/ als Auftriebskunstwerk“. Das ist nicht neu bei den Männern: die Kunst der Frau ist Natur. (Andererseits wäre das für viele Künstler das höchste Kompliment.) – Erotische Phantasien sind auch die Affengedichte: haariger Orang-Utan, der Mann in den Träumen zartester Mädchen, oder die „Weiß-nicht-Affen“ wie Menschenmänner täppisch, wenn eine nackte Frau erscheint.
Das sind trotz ihrer Intensität relativ ungestresste, trotz ihres Identitätsgehalts relativ ich-entlastete Gedichte. Schwerer werden Liebe und Poesie – bis zum gründlichen Zweifel an der Sprache selbst – im Trennungsschmerz. „Vom Verschwinden der Zeit“ thematisiert Trennung, Wiederkehr des Ichs nach seiner Verausgabung an die Frau, Zorn, Bewältigungsversuche. Trennung jedenfalls schafft eine prekäre Verfassung, deren Verbalisierungen man am wenigsten vertrauen kann, dienen sie doch (auch oder vor allem im Gedicht!) eher dem Selbstschutz als der Wahrheit (durch Selbsttäuschung, Verdrängung, Rationalisierung, Ästhetisierung…). Und so steht am Schluss des Gedichts das poetische Verfahren selbst in Frage: „(…) Es war alles,/ es war nichts. Red ich herum? Stell ich mich dumm?/ Bleib ich nun stumm? Reim ich mich endlich selbst?“ Ist Sprache nur Schutz vor ihrem Inhalt? Wird auf ästhetischem Wege harmonisiert, was in der Wirklichkeit weiter streitet? Und wird das Problem bis auf seine Unlösbarkeit zugespitzt, wenn im (singulären) Reim am Schluss selbst der Ästhetikverdacht ästhetisiert wird?
Noch eine zweite poetologische Tendenz lässt sich der Gedichtfolge ablesen: das angeschwollene Ich zu verdünnen. Das ist ein Friedenswunsch. Nur die Begehrlichkeit hat Krieg gemacht mit den Dingen, Versöhnung ist die Anerkennung ihrer bloßen Präsenz. Unsere Fragen sind dann prinzipiell die falsche Umgangsform mit den Dingen. (In einigen Gedichten gelingt dem Autor der Frieden mit ihnen, ausdrücklich.)
Der Autor beobachtet ein Elsternpärchen, Elsternliebe, Elsternart, „Elsternleid zu minimieren“; ein wenig neidisch und gerührt. Als einer der Vögel nahekommt, vergisst sich der Autor und greift nach ihm: „schon entfloh sie/ dem greifbaren Begehren,/ und ich schalt mich, kettete mich zur Strafe// in meinem Brustkorb fest, musste Schönheit, Scheu,/ viele Wörter mit ›sch‹ am Anfang,/ miteinander reimen, bis nur noch Speichel rann“.
Der poetische Missgriff: Natur usurpieren zu wollen. Zur Strafe (und wohl aus unerfüllter Sehnsucht) wirft sich der Autor an die eigene Brust und lässt sein Ich poetisch speicheln, die Natur nach Poetenart reimen, bis der Speichel auch ohne Natur rinnt. Das Gedicht enthält ein ernstes/leichtes poetisches Programm: Nicht nach Elstern greifen! (Nicht die Dinge poetisch immer fürs Ich funktionalisieren!) Weiter vorne im Buch hatte sich der Autor noch straflos Vögel aus den Platanen herangeholt.
Nicht zufällig wohl steht das Gedicht „Verdünnung“ am Schluss des Bandes: Der Dichter, die Feder in der Hand, beobachtet und notiert vorbeiziehenden Alltag; er beendet die Notizen mit der Selbstermahnung: „Spring nicht auf, breit// dich nicht aus, bleib hier/ im Papier, in deinem Schatten!/ Lösch dich nicht aus, lös dich ab,/ sei ganz dünn im Raum“. Hände weg von den Elstern! Die Anwesenheit des Dichters im Raum der Dinge hat ganz „dünn“ zu sein, papierdünn. Die poetische Betätigung der Blutpumpe nützt nicht immer den Dingen, dem Dichter und dem Gedicht.
Erich A. Richter, Jahrgang 1941, in den Siebzigern Mitbegründer und Mitherausgeber des „Wespennest“, in den Achtzigern erfolgreicher Lyrik- („Friede den Männern“, 1982) und Romanautor („Die Berliner Entscheidung“, 1984), danach in die Bildende Kunst abgewandert, meldet sich mit „Das leere Kuvert“ in der Literatur zurück. Willkommen!
(Helmut Goldner, Rezension in: Literatur und Kritik)
http://www.biblio.at/rezonline/ajax.php?action=rezension&medid=13244&rezid=15106
Stefan Schmitzer: [Rezension von: E. A. Richter, „Das leere Kuvert“]
Es gibt ja Zeitgenossen, die die Auffassung vertreten, was man anders als „lyrisch“ sagen könne, an das verschwende man nicht die größere Spannkraft der Gedichte. Halb und halb, unausgesprochen schwingt hier mit, „lyrisches Sprechen“ stehe in einem Gegensatz zu „geradeheraus Sprechen“: Wenn man über einen bestimmten Stoff einen guten Essay schreiben könne, warum dann ein schlechtes Gedicht verfertigen, lautet die Fragestellung in ihrer Hinterhand, und es wird sich in ausführlicheren Gesprächen herausstellen, daß sich ihre Leib- und Magen-Lyriker aus den Gefilden des hochartifiziellen l'art pour l'art rekrutieren. Sowenig ich aber gegen die Festestellung einzuwenden habe, daß hermetisch verschlossene Sprachräume, die der Dingwelt die lange Nase drehen, etwas durch und durch Feines sind, sosehr freut es mich, ab und an zu beobachten, wie der Formenschatz, der zur Errichtung dieser Räume entwickelt wurde, auch anderen Zwecken dient.
E. A. Richter scheint mit „Das leere Kuvert“ angetreten zu sein, der genannten Anschauung zu antworten: Aus dem Stoff für einen guten Essay macht er einen ebenso guten Gedichteband. Wohlgemerkt: Einen ganzen Band, der sich, wie im Nachwort Wendelin Schmidt-Dengler treffend festhält, am besten „von vorne nach hinten“ liest. Denn die Einzelgedichte dieses ganzen Bandes stoßen schnell an ihre Grenzen, wo man ihnen das „Hermetische“ abverlangt, das man sonst vorzufinden gewohnt ist, wo der vers libre regiert: Wie die Stimme eines Kommentators von weit her schalten sich da, vor allem in den ersten beiden „Kapiteln“, immer wieder „überzählige“ und pejorativ gefärbte Wendungen dazwischen, die in Bezug auf das ganze Buch sehr wohl Sinn gewinnen, so aber, nämlich als Teil des einzelnen Gedichtes, nur den Sachverhalt, den der jeweilige Text uns hauchzart umschreibt, fast karikaturhaft mit dicken Strichen in ein „Gefühlskasterl“ bannen (die Rede ist etwa von „schimmerndes Hausfrauengefängnis“). Ob dieses Stilmittel aber einen Bruch bedeute mit der Intention der Arbeit, oder ob es im Gegenteil integraler Bestandteil des Fragenkomplexes rund um das „leere Kuvert“ sei, eine Provokation durch Konkretion des lyrisch nur Angedeuteten, ist letztlich wohl Geschmackssache, mithin abhängig von der Bereitschaft des Lesers, zuzulassen, daß ihm da von Gedichten eine ganz greifbare Geschichte aufgetischt wird: Kennen wir ja etwa in der klassischen ostasiatischen Lyrik solche Rückversicherung einer „konkreten Handlung“, aus der das Gedicht destilliert wird, als etwas nahezu Verpflichtendes.
Eine Berechtigung zieht solch dicker Farbauftrag mitten in den Gefilden ansonsten durchscheinend-halbgreifbarer Bilder aus der Rückbesinnung auf die Wurzeln der Lyrik in der Musik, die gerade dort ironisch zwinkernd Platz greift, wo man es nie und nimmer erwartet hätte: Denkbar unmusikalisch muten die Zeilen „Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten / Eklatantes baut sich rundherum auf / Blut kehrt in sich selbst zurück.“ selbst in Anbetracht des Rütt-Muss (Arno Schmidt) der dritten Zeile an, aber dennoch strukturieren sie das Gedicht „Blutkreislauf“ als Kehrvers, verbinden die Bilder, die da, gleichsam Partikel in Schlagadern, vorbeigepresst werden.
Zum erwähnten Essay-Stoff: Ein Bekenntnisbuch im besten Sinne liegt vor: Eine Jugend wird geschildert, in wohldurchdachter „Combray“-Manier aus der Perspektive des Schlafenden, der sein Körperbewußtsein ausdehnt auf sozusagen „alle Körper, die er war“. Der Autor mag angesichts solch grotesker Verkürzung protestieren, da die Beziehungen Körper-Kindheit-Dorf viel feinmaschiger, eben lyrischer sind, doch mir ist es nur um ein Exzerpt der prosaischen „Handlung“ zu tun. Daß seine Verse diese transzendieren, und daß darin ein guter Grund liegt, das Buch zu lesen, versteht sich für mich von selbst. Erinnerungen an Szenen in Paris, Erprobungen des noch rohen Bewußtseins, folgen. Schließlich wird dem Schläfer seine Körperlichkeit – wie überhaupt das Fundament seines Ich-Empfindens – fragwürdig. Mögliche Auswege finden sich in der – wachen – Beobachtung der „kleinen Dinge“. Immer präziser wird diese, immer ersichtlicher regiert das „sanfte Gesetz“, immer mehr nimmt sich das schwitzende, fragende, ächzende Körper-Ich zurück, einmal beseeligt, einmal den „intensiveren Erfahrungen“ nachtrauernd.
Ein Weg in die Präzision wurde uns geschildert, wenn wir beim programmatischen Schlußtext angelangt sind, „Verdünnung“, der dieselbe dem Leser-Ich als Summa der Erfahrung anbietet: „Lösch dich nicht aus, lös dich ab, / sei ganz Dünn im Raum“. Sätze wie der unmittelbar vorhergehende („Spring nicht auf, breit / dich nicht aus, bleib hier / im Papier, in deinem Schatten!“) vergällen es dem Pathos-anfälligen Leser möglicherweise, sich darauf so richtig einzulassen, was dieser „verdünnte Körper“ uns da zu sagen hat, aber wie gesagt: Über Geschmack kann man streiten.
Letzlich also: Ein Buch, das vor allem die formbewußten Lyrik-Konsumenten in Fragen über Fragen zu stürzen die Kraft hat. Ein Buch, das eindringlich vom Prozesshaften des Älterwerdens redet. Ein Buch, das all jene lieben werden, die die Lyrik des jungen Thomas Bernhard mögen. Und für die Bibliothek der Provinz ein eigentlich programmatischer Band.
(Stefan Schmitzer, Rezension im Buchmagazin des Literaturhaus Wien veröffentlicht am 14. Jänner 2003)
http://www.literaturhaus.at/index.php?id=2505