Auf Leben und Tod
Erzählungen
Graziella Hlawaty
ISBN: 978-3-85252-314-9
21×15 cm, 126 Seiten, Hardcover
15,00 €
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Kurzbeschreibung
Graziella Hlawaty beherrscht ihr Handwerk, beschreibt genau, bleibt verhalten (manchmal vielleicht sogar zu verhalten), wechselt mühelos vom Realen zum Absurden oder Jenseitigen.
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Hlawaty ist eine der wenigen Autoren, die auch tatsächlich nur schreiben, wenn sie etwas zu sagen haben. Und zwar nicht nur über sich selbst.
Hlawatys Erzählungen sind kurz, klar, dicht und tief.
DIE PRESSE
AUGENBLICKE DER BLINDEN oder DIE SCHEIDUNG
Deine Stimme! Plötzlich höre ich deine Stimme. Ja, es ist deine Stimme, ich erkenne sie wieder.
Sofort strecke ich meine Hand aus. Ich strecke meine Hand, meine Finger, meinen Arm, meine Gedanken nach dir aus, ich greife, ich taste nach dir, berühre deine Silhouette, deinen Atem, deinen Geruch, deine Poren, dein Lächeln, deinen Schweiß – die bitteren Falten um deinen Mund, den Herzschlag deiner Abwehr. Nie zuvor habe ich dich so erfaßt wie in diesem Augenblick. Nie zuvor, in unseren vielen gemeinsamen Jahren vor der Trennung, sind wir einander auf diese Art gegenübergestanden.
Bist du es? fragst du mich. Es klingt sehr erstaunt, über alle Maßen erstaunt. Du kramst in dem Setzkasten deiner Worte nach neuen Buchstaben, ich weiß, du hast es immer schwer mit den Worten gehabt, du denkst in einer anderen Sprache, silbenlos, satzlos ist sie, beheimatet in einem buchstabenleeren Land. Und du wiederholst noch einmal dieses: »Du?« Eine zögernde Frage, ein Herbeiholen von Gewesenem. Das Aufsuchen eines Schmerzes.
Wir halten einander an den Händen. Ganz grau bin ich schon, ich fühle es, ich muß ganz grau sein, ich kann es ja nicht sehen, aber ich fühle, daß ich grau bin, grau und schneebedeckt von diesem häßlichen Stadtschnee. Es fällt auch schwer zu atmen, da ist Ruß, Schwefel, da sind Abgase, die legen sich über unsere Lungen, unsere Stirn, unser Herz.
Ganz grau bin ich schon, kalt ist es um uns und naß.
Wir sind viel zu lange unterwegs gewesen, sage ich und ertaste deine Lippen.
Wir gehen einige Schritte, wir betreten etwas Weiches – ist es Gras, ist es Erde? –, steigen darüber. Wir gehen Hand in Hand, eine Straßenbahn klingelt warnend, hier scheint eine Haltestelle zu sein, die Straßenbahn bleibt stehen. Wir gehen weiter, Hand in Hand, zwischen uns gerät Zartes, Biegsames – ich erfühle mit den Fingerkuppen dünnes Astwerk, Zweige, glatte Baumrinde – : Hier sind Bäume gepflanzt worden, stelle ich fest.
Man bemüht sich, die Stadt zu verschönern, erklärst du. Es ist im Radio darüber berichtet worden.
Jetzt berühren unsere Schuhsohlen Asphaltfläche. Du aber, du gehst so seltsam, deine Art zu gehen hat sich verändert. Wieso hat sich deine Art zu gehen, verändert? Was ist geschehen in der Zwischenzeit? Früher hast du so frohe Schritte gehabt, sichere, schnelle, beinahe so schnelle wie ich. Jetzt aber bewegst du dich langsam, leise und behutsam vorwärts – warum bist du so vorsichtig geworden?
Was ist geschehen in der Zwischenzeit? frage ich. Was ist geschehen, seit ich fort bin?
Was soll schon geschehen sein? fragst du zurück. Du weißt ja, was geschehen ist! Oder bist du noch immer nicht so weit, das zu erkennen? Denkst noch immer nur an dich, beklagst dich bei dir über dich selbst? Mein Gott, was soll schon geschehen sein? Das Leben geht weiter, ist weiter gegangen, ich bin härter geworden. Ja – Gott sei Dank! Ich bin härter geworden.
Als ob du jemals hart gewesen wärst, sage ich leise.
Ich habe es werden müssen. Wie hätte ich sonst weiterleben können?
Es klingt nicht bitter, wie du es sagst. Du gleichst einem Fremdenführer, der auf Ruinen zeigt: Seht her, das ist übrig geblieben. Es grenzt an Wunder, daß es noch diesen Rest gibt.
Aber das ist ein hilfloser Vergleich. Verzeih.
Wir kommen zu der Stelle, wo der Haupteingang in den alten Park ist. Die dicken Gitterstäbe. Die Türklinke. Die Türklinke in meiner Handfläche. Kalt. Hart. Sie gibt nicht nach. Das Eisentor ist verschlossen.
Ich kann es nicht glauben! rufst du. Es ist doch immer offen gewesen. Gemeinsam rütteln wir an dem Eisengitter.
Plötzlich haben meine Schuhsohlen Sehnsucht nach den vertrauten Kieswegen. Ich fühle, wie meine Sehnsucht wächst: nach den Bäumen, nach den Wegen, den Skulpturen, dem Teich. Dem Teich, wo ich einmal das Geäst der Trauerweide mein Gesicht hab streifen lassen. Dort riecht es immer nach altem Laub, nach naßbemoosten Steinen, feuchtem Sand – ich spüre den Duft bis hierher, er überfällt mich. Filmbilder der Erinnerung, von zärtlichen Zweigen gestreichelte Nahaufnahmen. Du und ich. Vor vielen Jahren. Beinahe schon fremde Geschichte. Eine »Story« über andere – erzählt von anderen.
An der Haltestelle, von den Wagen der Straßenbahn aus, sind sie gut zu sehen, und die Fahrgäste, hinter Glasfenstern, geschützt, beobachten sie: Die zwei, dort draußen. Die beiden halten einander an den Händen, steigen über ein Grasstück, geraten, ohne es gleich zu bemerken, dann in ein Beet von Jungbirken, gepflanzt erst vor kurzem von der Gemeindeverwaltung. Wie zögernd sie sich bewegen! Sie gehen langsam weiter, einige Schritte noch, stehen dann vor dem Parkeingang mit der hohen Gittertür. Sie rütteln an dem Eisentor. Rütteln einige Male. Sind sie blind? Sehen sie denn nicht die Kette, mit der es versperrt ist?
Die Straßenbahn beginnt zu fahren. Noch immer stehen die beiden vor dem verschlossenen Parktor, das Gesicht hingewandt zu den Bäumen, den Wegen. Sie schauen zum Teich, zu den Skulpturen und der alten, großen Weide. Schauen und schauen.
So als könnten sie dies alles genau erkennen.
Rezensionen
Christa Nebenführ: „Er hat doch die Sonne im Zimmer!“Sensible Gefühlslandschaften von Graziella Hlawaty.
An ein Seismogramm, welches das geringste Vibrieren an Fenster scheiben ebenso unbestechlich aufzeichnet wie ein Beben, das Städte zum Einsturz bringt, erinnern die 16 Erzählungen von Graziella Hlawaty. Die geheimnisvolle Forschungsreise mit M. A. Plivenius wird zur Darstellung gigantischer Katastrophen, indem sie durch ein Archiv mit bewegten Bildern führt, das der Bestandsaufnahme der gesamten Menschheitsgeschichte dient. Diese auf abertausenden Monitoren flimmernden Bilder von Massenmorden und Gräueltaten sind so schrecklich, dass sie nur in völliger Lautlosigkeit aufgezeichnet werden können. „Wer die Augen davor verschloss, konnte meinen, es sei nichts geschehen, und es geschah auch weiterhin nichts“ („Die Durchquerung des Theaters“).
Die Erzählerin, die in vielen Geschichten auftaucht, scheint immer nur eine zu sein, wenn sie, die schon bei der Durchquerung dieser Archive die Augen schließen musste, sich vom Anblick eines Verwundeten losreißt und bei einem Spitalsaufenthalt den Blick in die Intensivstation meidet. Aber die Geräusche, die in dieser Sequenz nicht ausgeblendet werden können wie in einem fiktiven Archiv, zwingen sie, den Blick zu ihrer von Schmerzen gepeinigten Zimmernachbarin zu wenden. Und nur so bemerkt sie rechtzeitig, dass sich das Gestänge von deren Atemgerät verschoben hat, und kann, mit einer kleinen Handbewegung, den leidvollen Kreislauf durchbrechen („Die Berührung“).
Diese Verschränkung von Mikro- und Makrokosmos sowie die Technik, verschiedene Formate, das surreal fantastische und das penibel erinnerte, ineinander zu flechten, werden schon in der zweiten Erzählung deutlich. Eine Wasserlache, die den Untergang eines Schiffes ankündigt, bedeutet für den Experten, der sie wahrnimmt, nichts anderes, als dass sein Experiment mit einem neu entwickelten Zeitzünder geglückt ist. Ein Kind, das dabei ist, ein Aquarell für seine Mutter zu malen, wird von grenzenloser Verzweiflung gepackt, als das Wasser, von dem es zu viel am Pinsel behalten hat, alle Farben bis zu einem unkenntlichen Grau ineinander verfließen lässt („Veränderungen, die Welt betreffend“).
Die Stärke des Bandes ist aber nicht in Inhalten dingfest zu machen, sondern in der filigranen Ausarbeitung, in der sensiblen Darstellung von Gefühlen und Landschaften, eigentlich Gefühlslandschaften und scheinbar peripheren Schilderungen.
„Sein Arbeitsplatz winkt ihn heran – der Computer, der Drucker, der Schreibtisch: Heiligenschein liegt über seinem Schlachtfeld, über seiner Gedankenwiese, die ganze Schreibwerkstätte ist in Gold getaucht, quillt über von Leuchtlampenlicht. Wer hat gesagt, dass Schreiben dunkles Einsamtun ist? Er hat doch die Sonne im Zimmer!“ heißt es da in der Erzählung „Abreise eines Dichters“, die dem 2001 verstorbenen Christian Loidl gewidmet ist. Einsamtun ist aber nicht Einsamkeit. Diese kann die Menschen über die Poesie zusammenbringen, wie Graziella Hlawaty und Christine Lavant, mit der sie in der wohl dichtesten Erzählung des Bandes einen fiktiven Dialog führt: „Aber sie getraut sich dann ja doch nicht, die Lavant zu fragen oder gar mit ihr zu reden über die Einsamkeit. So seltsam ist es doch um uns bestellt. Viele tausend Worte vermögen wir miteinander zu reden. Aber die todwichtigen umgehen wir wie die Katze den heißen Brei.“
(Christa Nebentür, Rezension in der Presse vom 15. November 2003)
https://www.diepresse.com/238854/er-hat-doch-die-sonne-im-zimmer