Landnahmen
Vier Versuche über eine mögliche Geopoetik
Peter Sommerfeld
ISBN: 978-3-99028-482-7
19 x 12 cm, 280 S., m. Abb., Broschur
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Kurzbeschreibung
Es geht um die Geschichten, die die Orte, das Land, die Stätten, die Geographie etc. einem Fremden erzählen. Eine Metaphysik des Raumes, die die Menschen einer Gegend formt, hält und bisweilen auch in den Abgrund schickt.
Das Wendland als Grenz- und Niemandsland einer „ehemaligen“ Zweiweltengeographie von Ost und West soll in seinem Inneren die unangenehmen Reste der abendländischen Weltgestaltungsverliebtheit aufbewahren. – Das Tal der Wupper erzählt die Schöpfung neu als wild gewordene Industrialisierung; dazwischen schiebt sich das choreographische Projekt einer begabten Wirtshaustochter aus Solingen, die den Ingenieuren die Ausdauer des Poetischen vorführt. – Es verirren sich Reisende im erratischen Wegenetz im Land der Otakare (Traunviertel, Oberösterreich). Im tiefen Boden der Äcker stehend werden sie von der üppigen Jenseitigkeit des Katholizismus eingeholt, der die dort Lebenden zwingt, sich von Mal zu Mal einer rituellen Prozession anzuschließen. – Schließlich kehrt der Erzähler in seien Geburtsstadt zurück und findet dort das Fremde in Gestalt eines Großvaters, der aus dem letzten großen Krieg nicht heimgekehrt ist. Mit den Slawen des „Erlaftales“, den Namensgebern der Region, und mit der Geschichte einer unabschließbaren Trauer versucht „der im Erlaftal Geborene“, die verspätete Heimkehr des Großvaters zu erwirken.
Am Morgen nach der Ankunft, der Nebel begann sich zögerlich zu lichten, um mäandernde Baumreihen freizugeben, deren blattlose Kronen den rosigen Himmel ziselierten, suchte ich verstohlen nach einem der Wachtürme, die wohl hier in der Umgebung gestanden haben mögen. Die Gegend präsentierte sich menschenleer. Ab und zu preschte ein Auto über die Landstraße, in einer Koppel jenseits der Straße grasten Pferde. Die Wachtürme, glaube ich, haben sie alle wegge(t)räumt. Auch den Nachhall des Keuchens eines um sein Leben rennenden Flüchtlings von einst, konnte ich nicht mehr ausmachen. Deutlich sah ich eine Person über das Wendland, das Niemandsland, das Grenzland jagen. Das hohe Gras gegen Arme und Beine schlagend. Die Gegend bewachsen, aber doch wüst, schön, aber doch abweisend, bizarr, aber doch verführerisch, zeigt keinerlei Anteilnahme. Der Boden lässt die Schritte echolos verebben und kennt dabei keine Sorge. Arno Schmidt hatte sich diese Gegend ausgesucht, damals, Ende der Neunzehnhundertfünfziger. Nur dort konnte so etwas wie Zettels Traum entstehen. Ich hatte mich erkundigt. Eine Autofahrt von Kassau nach Bargfeld würde nicht ganz eine Stunde dauern. Was würde mich erwarten? Dass Schmidts Geist aus der Bargfelder Erde aufsteigen würde, um mir das eine oder andere ETYM mitzugeben?
ETYMs, diese bedeutungsschiefen Chamäleonwörter, die sich die Protagonisten in Schmidts Roman gegenseitig in die Hände und in die Köpfe spielen. Ich sah den Autor hinter dem Fenster seines Hauses stehen, das Fernrohr auf die Umgebung gerichtet. Wie die Welt wohl so vor sich geht da draußen? Draußen – das entscheidende Wort. Draußen wollte Schmidt wohl kaum sein. Draußen war ihm die drohende Zeitverschwendung aber auch das notwendige Material, an dem sich der Geist des Literaten in Prozessen gottgewaltiger Mühen und Plagen abzuarbeiten hat. Im Sinne eines Schmidthaft positiv gewendeten Draußen stand ich draußen und blickte unentschlossen von der Straße weg zum Seminarhaus hin, das mir seine große verglaste Fassade zugewandt hatte, durch die hindurch ich die Gestalten meiner Kolleginnen und Kollegen wahrnehmen konnte. Die Frühaufsteher hatten sich gebetslos zum Morgenbrot eingefunden. Und ich stand draußen, auf der anderen Seite, abseits. Still sprach ich vor mich hin und ein wenig zum Haus hin. Dominus vobiscum. Ich hörte mich rufen. Ich sah mich Segensgesten geben. Vergeblich …