Verlag Bibliothek der Provinz: Verlagsprofil
DAS BUCH SEINES LEBENS
Der in Niederösterreich ansässige Verlag Bibliothek der Provinz feiert sein 30-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubiläums widmet Axel Ruoff dem Verleger Richard Pils und seinem Verlag eine ausführliche Hommage.
Das Zeichen 冊
Auf dem Rücken der Bücher des Verlages Bibliothek der Provinz ist das Zeichen 冊 (= cè, also etwa tse ausgesprochen) zu lesen, es ist altchinesisch und auf dem chinesischen Festland nicht mehr gebräuchlich, jedoch noch in Taiwan und Hongkong. Außerdem hat es Eingang in die japanische Sprache gefunden. Das Zeichen, das Fadengebundenes Buch bedeutet, geht auf das Bild zusammengebundener Holz- und auch Bambusbrettchen zurück, deren Breite ausreichte, um die chinesischen Schriftzeichen untereinander anzuordnen. Solche Bücher sind in China ab 500 v.Chr., in anderer Form seit 1250 v.Chr. nachgewiesen.
Die Höhle (1)
Von dem Maler Wú Dàozǐ wird berichtet, er sei in seinem eigenen Gemälde verschwunden, man habe ihn noch den Weg durch die von ihm gemalte Landschaft gehen und in einer Höhle verschwinden sehen, die sich hinter ihm geschlossen habe. Da von dem Maler kein einziges Gemälde erhalten ist, muss er sie wohl in die Höhle mitgenommen haben, als wollte er sich über platonische Schattenspielchen lustig machen. In einer solchen Höhle, in der sich – wie die chinesische Überlieferung berichtet – ganze Bibliotheken verbergen können, wird eines Tages auch ein gewisser HERR 冊 verschwinden, aber dorthin wird er nicht durch seine gemalten Bilder (auch wenn eines mit farbiger Silhouette auf weißem Grund so aussieht) gelangen, sondern in den schon heute über 1800 Büchern wird er verschwinden, die er verlegt hat und zwischen denen er seit Jahrzehnten lebt. Dann wird er sein Jackett anziehen, seine Brille in die Hemdtasche stecken, einen seiner Hüte aufsetzen, seinen Zopf zurückwerfen und zwischen die Bücherseiten schlüpfen. Wú Dàozǐ wird ihn in der Höhle freudig auf Chinesisch mit „HERR 冊!“ begrüßen, während wir noch einen Moment etwas aus den Büchern herausragen sehen, was man für ein Lesebändchen, ein Lesezeichen halten könnte, aber es ist der Zopf des HERRN 冊, der sich noch durch die Seiten schlängelt, als müsste man ihn nur wie Rapunzel darum bitten, dass er ihn zu uns hinauswerfe, um uns in seine Bücherhöhle hinabzulassen.
Der Holzverstand
Wenn die Höhle nicht im Waldviertel liegt, wo sich der Teufel an den Eingängen zur Unterwelt herumtreibt, ist sie in Oberösterreich zu finden, jedenfalls in einer der Landschaften, die den HERRN 冊 so tief geprägt haben. Was das bedeutet, wird an zwei Fotos in dem Buch Thomas Bernhard – Portraits deutlich, das mit dem österreichischen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Im Obstgarten von Thomas Bernhards Vierkanthof in Obernathal und am Grab des Schriftstellers auf dem Grinzinger Friedhof sind je ein gebeugter, geknickter Obstbaum zu sehen, der in seiner gestutzten, verschulten Gestalt der Haltung des lungenkranken Schriftstellers überraschend gleicht, als wurzelten sie in derselben Erde, im Boden nicht nur derselben geologischen und klimatischen, sondern auch gesellschaftlichen und geschichtlichen Verhältnissen, über die eben auch in der Kindheit und Jugend des HERRN 冊 gesprochen wurde, etwa die Februarkämpfe des Jahres 1934, physisch und psychisch verletzte, verkrüppelte Kriegsheimkehrer, gefallene Onkel, eine Großmutter, die Häftlingen aus dem KZ Mauthausen Unterkunft gewährte, die sogenannte Hasenjagd im Mühlviertel und so weiter.
Das Verhältnis von Einzelschicksal, kollektiver Geschichte und Literatur bzw. Geschichtsschreibung verdeutlicht Franz Kain im Epilog seiner Erzählung Der Weg zum Ödensee sinnbildlich an den Würgmalen einzelner Bäume, an denen der Holzverstand die Geschichte eines Waldes abzulesen vermag „Wer Holzverstand hat, weiß es längst: die astreichen und schadhaften Stellen eines Stammes sagen mehr über die Beschaffenheit eines Waldes aus als schon ausgeformte Längen. Von ihnen ist das Knorrige abgetrennt, die übriggebliebene Glätte täuscht Harmonie vor. Erst an den Wunden des Baumes erkennt man, ob er dem Steinschlag ausgesetzt war, dem Lawinenschnee, dem Sturm oder dem gewaltigen Druck eines unruhigen Steilhanges. Die geradwüchsige Faser ist leicht verwertbar, ausdrucksstark ist sie nicht.“
Ein alter Bergbauer sollte als Kind Holz für einen Peitschenstiel besorgen. Ein dafür geeigneter junger Lärchenstamm widersteht seinen Versuchen, ihn abzudrehen, und bleibt stark mitgenommen zurück. „Der Bauer hatte das kleine Erlebnis längst vergessen, als nach sechs Jahrzehnten ein Sommersturm den Wald verwüstete. Aus dem Katastrophenholz waren nur noch kurze Stücke als Schnittholz zu gebrauchen, und aus einem dieser Waldtrümmer wurde ein Türstock gezimmert. Beim Hobeln der Pfosten zeigte sich, dass eine Stelle besonders widerspenstig war und sich auch durch das feinste Eisen nicht glätten ließ. Der Bauer forschte nach dem Standplatz der Baumruine, und da stellte sich heraus, dass es die Lärche war, die vor Jahrzehnten dem Zugriff des Knaben getrotzt hatte. Der Türstock zeigte an beiden Seiten merkwürdig verfilzte Stellen, als sei die Faser des Holzes wie ein Knäuel durcheinandergeraten. Bei Lärchenholz ist man ohnehin einige Widerwärtigkeit gewohnt, aber an den beiden Pfosten traten ständig kleine Harztropfen aus, die vom Kern des Stammes aufstiegen. Diese Flecken werden nach hundert Jahren noch pechen, meinte der Bauer, denn genau diese Stellen seien es, an denen er einst den Baum gewürgt habe, und das vergesse auch das tote Holz nicht. Das gehobelte Holz zeigte deutlich Würgmale. Unsere Geschichte hat viele ausgeprägte Würgmale, die allen Versuchen, sie glatt zu hobeln, widerstehen. Die wesentlichen Haupt- und Staatsaktionen aneinandergereiht, würden einen geraden Weg vorwärts erkennen lassen. Nimmt man jedoch die Würgmale dazu, dann ergibt sich ein Weg (…) in vielen Windungen (…).“
Wie die Geschichte ist das Leben eines Menschen so wenig auf einen Stammbaum wie eine Linie festzulegen, sei sie geradlinig, auf- oder absteigend, umherirrend gezackt oder zögernd zitternd, sondern es ähnelt eher einem Netz, einem – dem Knäuel der Baumfasern ähnlichen – Geflecht, das sich auf der Erde ausbreitet. Manche mögen ihr Leben bebildern, HERR 冊 bebüchert es, schichtet Seiten schlichtend Bücher auf, die es noch nicht gab oder gibt, die noch gemacht werden müssen, andere, die wieder vergessen wurden oder aus zum Beispiel politischen Gründen nicht mehr erschienen sind. Jetzt erst wird die Bedeutung des Zeichens 冊, das ja auf das Bild aus Holz gemachter Bücher zurückgeht, deutlich, dass im Verlag des Herrn 冊 mit geschichtlichem Holzverstand Bücher gemacht werden, der die Eigenwilligkeit und Würgemale menschlicher Existenz nicht außer Acht lässt, sondern zu Wort kommen lässt.
Die Enzyklopädie
Diese Art des Denkens und Arbeitens hat etwas Enzyklopädisches: „Tatsächlich ist das Ziel einer Enzyklopädie, das Wissen zusammenzutragen, das auf der Oberfläche der Erde verstreut ist, um den Menschen, mit denen wir leben, dessen allgemeines System darzustellen und an die Menschen weiterzugeben, die nach uns kommen, damit die Arbeiten der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sind, damit unsere Enkel gebildeter und gleichzeitig tugendhafter und glücklicher werden.“ Denis Diderot: Prospectus (1750). In: Œuvres complètes de Diderot. Band XIII, S. 130. Die Enzyklopädie Diderots versammelt Artikel über Wissenschaft, Kunst und Handwerk, deren Verflechtungen und Querverbindungen sie aufzeigen will, um die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge darzustellen. Gleichzeitig legt sie Wert darauf, auch das (Erfahrungs)wissen der sogenannten einfachen Menschen aufzunehmen. Dementsprechend ist der Verleger auf der Suche nach Stimmen, die seinen Standpunkt in der Welt, in der er aufgewachsen ist und lebt, genauer bestimmen und die die Landschaft, deren Geschichte und Tradition zum Sprechen bringen. Wie lässt sich das in einer Landschaft gesammelte, aufbewahrte und weitergegebene Wissen und die Erfahrungen, die sich tief in Gedächtnis und Körper eingeschrieben haben, in Köpfen und Handgriffen lebendig waren, in Bücher übertragen?
Die Höhle (2)
Womit sich das Unternehmen des HERRN 冊 konfrontiert sieht, macht der keineswegs bloß metaphorische Ort der Höhle deutlich, der widersprüchlich, einerseits Schutzort des Aufbewahrens und Versteckens, andererseits Ort des Vertuschens, der Verdrängung von Angst, Schrecken und Tod ist, wie Richard Pils in Jedes Sandkorn ist ein Stück: Felsen-Bilder (1988) deutlich macht: „wenn ich oben von erinnerung sprach, so meinte ich da nicht allein einen geologischen exkurs der granitmasse und deren schollen (…), vielmehr das persönliche, leidliche, p(b)einliche usw: oft genug bildeten die steinburgen, steinverwirrungen mit ihren höhlen und schlüpfen ein versteck für einzelne, flüchtende, zu versteckende die möglichkeit, überleben zu können, so wurden in den himmelsteinen, fuchsensteinen unmittelbar nach dem zusammenbruch des nationalsozialistischen großdeutschen wahns (…) nazi-bürgermeister, kühe, ziegen schafe, ssler, gewehre, dokumente und geld versteckt, nachdem sich ein paar jahre vorher ausgebrochene kzler vergeblich da versteckt hatten, aber nicht versorgt wurden, da ihre angehörigen nie in unmittelbarer umgebung lebten, falls sie noch lebten. Da hat man sich vor den hussiten oder vor den katholiken verbarrikadiert, und so gab und gibt es stets etwas un- und ehrenhaftes, nichtzusehenbekommendes. Auch wenn vom fremdenverkehrsverband, verschönerungsverein oder einer bank eine bank vor einem erhebenden, wärmenden und versteckenden felsen vorgesetzt wird, so verlieren sich kinder, jugendliche, abenteuerer, archäologen, liebende oder so tuende zumeist auf, zwischen oder gar unter die Felsen.“
Wer hat ein Interesse, dass die Nähe des Menschen zur Landschaft, zur Natur, dass funktionierende, selbstbestimmte Beziehungen zwischen den Menschen untereinander und zu ihrem Lebensraum gestört, ausgebeutet, kommerzialisiert und kontrolliert werden? Was wurde und wird verschwiegen, wer lässt das Abseitige, Verhinderte zu Wort kommen? Wer darf und kann sich wie äußern, was ist die Norm des öffentlichen, kulturellen, künstlerischen, literarischen Diskurses, was fällt durch das Gitter, wer reicht wem die Hand, um ihn aus den Höhlen herauszuziehen, von denen die Sagen des Wald-, Mühl-, Most- und Hausrückviertels berichten. Sie sind verwoben mit der Landschaft, den Formen der Natur, die das Sprechen, Beschreiben, Erklären herausfordern, sie sind „Anhaltspunkte für Geschichte, Literatur, Schicksale, Seuchen, Kriege, Völker und Mythologien“ und verschwinden mit den Steinen, fallen ebenfalls der Flur- und Hirnbereinigung, Verschandelung und Zerstörung zum Opfer, wenn sie keiner sammelt.
HERR 冊 hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Spuren der Vernichtung, des Vertuschten zusammenzutragen. Das, was Schutz suchen muss, was vom Ab- und Aussterben bedroht oder schon ausgestorben und vernichtet ist, Erfahrungen und Wissen, die ausradiert, bereinigt, vermarktet werden, gilt es, in Bücher zu retten, damit sie nicht ganz der Vergessenheit anheimfallen. Jeder Steinbrocken in einer Landschaft hat sein Gedächtnis, seine Sagen, seinen Namen. Der Landschaft sind ihre Stimmen zurückzugeben, die wie die dort lebenden Menschen entmündigt, mundtot gemacht wurden, was Selbstbestimmung verunmöglicht. Die Frage ist nicht nur sich vor Katastrophen schützen zu können, was heute, wie Gerhard Amanshauer im Mansardenbuch am Beispiel der Höhle verdeutlicht, unmöglich wäre, sondern auch sich staatlichem Zugriff, den immer feineren, technischen Mitteln der Kontrolle zu entziehen, es geht um Freiräume. Wenn einem die Landschaft der Kindheit verloren geht, gegangen ist, bleibt nur die Flucht in den Schnee, an den Arsch der Welt: „es gibt keinen grund du bist nicht augerichtet wie die blumen zur sonne dein lebensgesetz beherrscht die polizei und es ist gut wenn es schneit denn der schnee gibt dir einen vorsprung vor der polizei und unerreichbar dünkst du dich wenn es nicht aufhört zu schneien / schnee beschütze mich und gib mich nicht mehr frei / sei eine schützende mauer hinter mir / (…) wir zwei gehen weg ich und ein dämon / er blickt auf seine armen halbschuhe / ich bin die hoffnung der mutter und ich bin der arsch der welt“, sagt Herbert Achternbusch in Reden zum eigenen Land.
Das Schöpferische
Wie die Granitmassen und die Geologie in dem obigen Zitat andeuten, ist die Menschengeschichte als Teil der Erd- und Naturgeschichte zu begreifen, die Erde, die Landschaft, der Mensch werden als etwas Gewordenes erkennbar, der Blick richtet sich auf die Kräfte, die in einer Landschaft, in einem Menschen wirken, den HERR 冊 als schöpferisches Wesen begreift. In ICH BIN du und ICH Sind wir? aus dem Jahr 1988 schreibt Richard Pils, der bereits als Lehrer und Schuldirektor – im Sinne seiner Erziehung zum Büchermachen – mit seinen Schülern Bücher herausgab: „kritzeln ist schreibtätigkeit. kritzeln ist eine entwicklungsstufe des schreibens, ist schreiben an sich. Das kind hinterlässt spuren, die für es durchwegs etwas bedeuten. Das spurenhinterlassen macht vielleicht das mensch- und kultursein aus. (…) am anfang war der kreative akt des spurens, des kritzelns, des bildens, des formens, des schreibens – von dem die erklärung, der vergleich, der gedanke abgeleitet werden. (…) das zeichnen und das zeichen sind einfache und phantastische mittel, die den vorteil haben, dass man nur abfärbendes, vergängliches, verklingendes braucht, die aber wohl gedanken, steine, wolken, wasser, erde, feuer, flammen, zungen, zacken, wärme, kälte, blitz, mistkäfer, nüsse, fühler, lustinen…zur voraussetzung haben (…) das aber, was alle schüler mitbringen, oder besser jeder einzelne an schreibmotivationen und vorformen des schreibens, falls diese nicht durch kindergarten und vorschule zerstört worden sind, wird selten genutzt, ebenso wenig wird die kommunikative funktion des schreibens und lesens und sprechens berücksichtigt. Etwas, das die kinder schon beachten, wenn sie auf boden, sand oder papier gekritzelt und dabei gelautet haben. Nun ja, das sandige, bödige spurenhinterlassen der kindheit wird immer mehr eingegrenzt. da gibt es die sandkisten in den parks, in denen gesandelt wird, in die hunde öffentlich und die katzen hauptsächlich nächtlich hineinscheißen, in denen die kinder zu „spuren“ (parieren, gehorchen) haben. Aus denen sie nicht hinausspur(t)en dürfen. (…) kritzeln wird zum schmieren.“ Davon, wie es anders sein könnte, zeugt auch die bildende Kunst. Sie stellt die Frage nach der Möglichkeit selbstbestimmten Ausdrucks, (zweck)freier Arbeit mit Material, das es genau zu kennen gilt, um damit umgehen zu können, und das von selbst in andere Zusammenhänge wie Botanik, Geologie, Chemie, aber auch zum Beispiel Handwerk führt.
Der Lehrer trifft bei Kindern auf einen möglicherweise weniger verschulten Ausdruck dieser schöpferischen Kraft, die vom Erleben und Erkennen nicht zu trennen ist, ein Kind muss das, was es gesehen, gelesen, gehört hat, sofort umsetzen als Spiel und eigene Bewegung, in einen eigenen Rhythmus übersetzen, im Malen, Erzählen und Schreiben muss das, was es erlebt hat, weitergegeben werden, bis es an die Grenzen seiner Sprache stößt, an das, was es sagen kann, darf, zu sagen hat. Umgekehrt fordert die Sprache das Denken und Erleben heraus, treibt voran, wird vorangetrieben, so geht das hin und her, beim Schreiben, Lesen und Verlegen.
Verschwinden üben
Bereits heute könnte man den Eindruck gewinnen, dieser Herr 冊 verschwinde in seinen Büchern, deren Herstellung er sich mit Haut und Haar verschrieben hat, beim ständigen Umherfahren, Laufen, Eilen, Telefonieren, Sprechen, Schreiben und Verhandeln scheint er sich in seinen Buchproduktionen aufzulösen. Jeder, der sich schon einmal in ein Buch vertieft hat, weiß, was es heißt, beim Lesen die Zeit, Pflichten, Aufgaben- und Terminlisten, die Welt, alles zu vergessen und zwischen den Zeilen zu verschwinden, und sei es denen eines neuen Manuskripts. Bücher sind wirklich Zufluchtsorte, die Schätze bergenden, schützenden Höhlen gleichen, die vor Blitz, Feuer und Tod bewahren, der alles vernichtet, was einem das Liebste ist, was man gesammelt, sich aufgebaut hat, die vor den Anmaßungen der Autoren, der Engstirnigkeit der Kulturbehörden, vor Verständnislosigkeit, Faulheit, Anbiederung, Korruption und den Machtspielchen einer Welt schützen, die nicht die ist, die man sich vorstellt, die diese Bücher nicht zu brauchen vorgibt und einen zum Idealisten abstempelt, wie es Richard Pils in einem Verlagsprogramm der Neunzigerjahre formuliert. „Früher etikettierte man solche Leute als „Idealisten“, eine sogenannte ehrende Bezeichnung, die ihnen mit einer Sicherheitsnadel angesteckt wurde, die obendrein die Misserfolge und die Ignoranz der Kulturpolitiker versüßen sollte. Entgegen aller Unterstellungsversuche von Seiten der Finanz- und Kulturverwaltungsbeamten, die da gerne die Gewinnerzielungsabsicht und damit den Unternehmerstatus absprechen möchten (sollen/müssen), behaupte ich, dass ich mich des Idealismus‘ als wirtschaftskriminellen Tatbestandes nicht schuldig mache. Außerdem meine ich, dass diese VerlagsKulturarbeit der öffentlichen Hand auch etwas wert (öS/DM/sfr/E) sein sollte/könnte/müsste.“
Ja, der HERR 冊 verschwindet schon zu Lebzeiten in seinen Büchern, denn eigentlich arbeitet er an einem einzigen Buch, dem seines Lebens. Die Zwangsläufigkeit des Verlegens liegt nicht in einer Idee oder Ideologie, dann noch eher im Übermut, sondern in der konsequenten Erforschung der sich ändernden Umstände und Bedingungen der eigenen Existenz, die von selbst zum Geschichtlichen und gleichzeitig zum Literarischen, Fiktiven und Geträumten und weiter zum Menschlichen und Elementaren vorstößt. Das enzyklopädische Büchermachen überschreitet das (Auto)biographische und Regionale, weil deren Verstrickung, Verwicklung und auch deren Bedeutung darüber hinausdrängt, von der Peripherie ins Zentrum, vom Regionalen ins Globale und zurück.
Solche Einschränkungen, Gegensätze und Widersprüche lässt das Leben selbst hinter sich, wenn es Berührungspunkte herstellt, an denen Begegnungen, Bekannt- und Freundschaften und dann Bücher entstehen oder eben umgekehrt. „Ihre Spuren – noch sind sie sich dessen nicht bewusst – haben sich eben, bei einem belanglosen Ruck der Bahnhofsuhr, für immer getrennt. Sie ziehen ihren Lebenslauf, sie tun ihre tägliche Arbeit mit undurchdringlichem Gesicht; einige gewaltsame Ereignisse, einige Katastrophen treiben sie noch auf der Erde umher. Die zwei Spuren beschreiben fahrige Linien auf der Erdoberfläche, nähern sich zufällig da und dort und enden getrennt. Letzter Berührungspunkt bleibt eine Bahnhofshalle mit dem springenden Zeiger einer verschollenen Zeit.“ Solche Berührungspunkte, von denen Gerhard Amanshauser in Der Abschied (in Der anachronistische Liebhaber) spricht, können zu Ausgangspunkten sich ständig kreuzender, parallel laufender, sich überlagernder Linien werden. Die aus verschiedensten Begegnungen entstandenen Bücher bewahren die verschollene Zeit auf, Lebenszeit mit einer eigenen Geschwindigkeit, einem eigenen Rhythmus, der sich in Sprache, Musik und Bildern niederschlägt.
Wie bei der Definition der Enzyklopädie ist im obigen Zitat von der Erdoberfläche die Rede, auf der der Mensch Spuren hinterlässt. Kritzeln hinterlässt Spuren, kratzt aber auch ab, um zu erforschen, zu sehen, was sich darunter versteckt, außerdem kritzeln, zeichnen und erzählen Kinder, um Austausch herzustellen, so entstehen auch Bücher. Der Verlag ist in einem ehemaligen Gasthaus untergebracht, dem Ort, an dem ebenso viel getrunken, geraucht, gefeiert und getanzt, wie politisiert, erzählt und besprochen wurde. Das Buch der Existenz des HERRN 冊 besteht also nicht aus allen Büchern, die er je gelesen oder gar geschrieben hat, sondern aus den Geschichten von – die Herkunft überschreitenden – eigenen und fremden Träumen, Hoffnungen, Erinnerungen und Enttäuschungen, von eigener und fremder Wut, Freude und Trauer, von Begegnungen, Missverständnissen und Freundschaften. Wenn sich die Geschichten von Menschen kreuzen, entwickelt sich von selbst eins aus dem anderen. Das Eigene spiegelt sich im Fremden, das das Eigene als Fremdes zurückwirft, sodass sich das Eigene und Fremde, das Wirkliche und das Geschriebene, das Erlebte und Fiktive manchmal so verzwickt spiegeln, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind.
Die Fliege und das Muttermal
Till Heimeran erzählt in Die Zunge des Stieres eine Geschichte: „Oder die Geschichte von dem Maler der ein Bild von der Lieblingsfrau des Königs malen sollte. Zuerst hat es ihm sehr gut gefallen. Aber dann war da das Muttermal. An einer Stelle, die der Maler um keinen Preis hätte sehen dürfen. Der König wurde furchtbar zornig und schrie nach der Prinzessin. Die kam auch gleich angerannt. Der König stampfte mit dem Fuß und rollte die Augen und zeigte mit dem Finger auf das Muttermal. Die Prinzessin strich mit der Hand über das Bild und die Fliege flog davon.“ Das Muttermal zeichnet den Körper, ist je nach Sichtweise Ausdruck schöner oder hässlicher, ausgezeichneter oder verfluchter Einzigartigkeit, es verweist auf die eigne Herkunft, die immer zwiespältig, widersprüchlich ist, weil sie immer, so nährend, reich und voll Wärme sie gewesen sein mag, immer auch verhängnisvoll, eng und unerträglich ist. In Gestalt der Fliege setzt sich diese Herkunft, das angeblich Eigene über den beschränkten Rahmen hinaus in Bewegung und löst so am eigenen Leib die Dialektik von Eigenem und Fremdem aus, für die paradigmatisch Provinz steht, wie Richard Pils sie charakterisiert: „Provinz ist das Verhinderte, Lebendige, Gleißende, Unpädagogische, Wurzelige, Nichtpostmoderne, das Neugierige, das Erfundene, Kranke, Geniale, Hungrige, Wütende, Glückliche, Rostige, Stumpfe, Kleine, Frierende, Freilassende, Mühsame, Nächtliche, die Moosbeere, die Kruste auf dem Apfelstrudel, das Muttermal auf Deinem rechten Schulterblatt, das Schweigenmüssen und Nichtverraten ….“ Das Muttermal ist – wie in der Geschichte Heimerans – Zeichen der einzigartigen Schönheit der Geliebten, die sich durchaus als bedroht erweist. Das Lachen, die Schadenfreude und der Schauer, den die Geschichte nämlich auslösen, verdanken sich nicht nur dem geheimnisvollen, beunruhigenden Verschwimmen von Wirklichkeit und Bild, von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Leidenschaft und Wahrnehmung, sondern auch dem scheiternden Anspruch des Königs, über Bild und Wirklichkeit verfügen, sie festlegen, sie nach seinen Vorstellungen und Machtinteressen manipulieren zu können, die Königskrone wird zum Faschingskostüm, der eifersüchtige Machthaber erscheint menschlich, fehlbar, ja lächerlich und verliert die Kontrolle, das Monopol der Deutung, was Wirklichkeit ist. Das mutmaßliche Liebespaar entzieht sich seinem Machtanspruch, den es als Illusion entlarvt.
Für den, der diesem Machtanspruch zum Opfer fällt, von den Würgmalen der Geschichte gezeichnet ist, wird das Muttermal der Fliege zum Kainsmal, das sich in Franz Kains Das Antlitz des Kalmücken (in Der Weg nach Ödensee) nicht mehr verjagen lässt, das ihn zeichnet und gleichzeitig einen anderen Blick und damit eine andere Schreibweise erzwingt: „Der Kriegszeichner der Zweierschützen liegt unter einem Baum und fühlt sich brüderlich verbunden mit den Toten von Krakau. Sind es wirklich die Unnützen und Schwachen, die kopflos werden beim Anblick von achtzig Sterbenden? Er selbst hat die todmüden Henker beim robusten Schlaf unter den baumelnden Leichen gesehen, als lägen sie unter Fliederbüschen. Das ist seine Barriere, die er nicht überwinden kann. Er hat seither etwas auf der Netzhaut seines geübten Augen, das schmerzt und stört und demütigt wie eine schändliche Verunreinigung. Er wird es einmal so darstellen: Sein Gesicht schaut gleichmütig aus dem verschwommenen Spiegel der Glastüre eines Behelfslazaretts. Aber dort, wo sein linkes, herzseitiges Auge ist, hockt eine Schmeißfliege wie ein Schmutzfleck und verdeckt die Pupille. Er wird künftig die Welt durch eine auf dem Auge sitzende Schmeißfliege hindurch betrachten müssen.“
Die verjagte, frei fliegende Fliege taucht hingegen in Gerhard Amanshausers Geschichte Der Thronfolger (in Fransenbuch) wieder auf und stellt unglaubliche Verbindungen her. Der angehende König beneidet die Fliege um ihre Freiheit. Überall lässt sie sich nieder, alles kann sie körperlich erfahren, sie ergeht sich in ihrer Lust, die nicht von ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen zu trennen ist, sie setzt die vom Menschen gesetzten Grenzen und Hierarchien außer Kraft, sie wertet nicht, macht keinen Unterschied zwischen Gold und Kot. Eine erste Erfahrung des Lesens waren für den HERRN 冊 als Kind die zerrissenen bedruckten Seiten auf dem Abort, wo sich eine eigenartige Verbindung von Kot, Arsch und Sprache herstellte, was dem Verleger zum Auftrag wurde, dass Sprache zu benennen habe, was es gibt und gab, dass sie der Wirklichkeit auf der Spur bleiben muss, ohne sich die eine Wirklichkeit als wahre vorschreiben zu lassen, die es darzustellen gilt. Er verweigert sich dem, was Achternbusch in Die Autobahn Welt nennt, die alles der Diktatur von größtmöglicher Verständlichkeit und Verkäuflichkeit unterordnet. „Ich könnte meine Filme mit Einspielgeldern aus meiner Gegend machen, wenn meine Gegend nicht dem Gesetz der Anonymität unterworfen wäre, denn hier gefällt, was auch anderswo gefällt. Dieser Mangel an Eigenständigkeit wird durch Weltteilnahme ersetzt. Man kann aber an der Welt nicht wie an einem Weltkrieg teilnehmen. Weil die Welt nichts ist. Weil es die Welt gar nicht gibt. Weil die Welt eine Lüge ist. Weil es nur Bestandteile gibt, die miteinander gar nichts zu tun haben brauchen. Weil diese Bestandteile durch Eroberungen zwanghaft verbunden, nivelliert wurden. Welt ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. Bayern ist eine Kolonie der Welt. Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. Die Welt vernichtet uns, das kann man sagen. (…) Das imperiale Gesetz dieser Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muss von jedem anderen Punkt der Welt verstanden werden. Das hat zur Folge, dass jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muss. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder der Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und der Herrschende. Herrschaft muss begreifbar sein. So geht die Welt an den herrschenden Begriffen wie Welt, Unterdrückung, Gerechtigkeit und Begriff zugrunde. Es ist töricht zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden, denn sie haben längst nur noch einen Namen: Geld.“
Die Fliege, die, wie Heiner Müller es über Herbert Achternbusch gesagt hat, den antikolonialistischen Befreiungskampf aufnimmt, stellt die Vielfalt sprachlichen Ausdrucks dar, die sich in den sehr unterschiedlichen, von HERRN 冊 verlegten Büchern verwirklicht. Sie steht für alle möglichen Stilhöhen, -tiefen und Ausdrucksformen, Dialekt oder Hochsprache, die eines Bauern, Handwerkers, Ingenieurs, Wissenschaftlers, Künstlers, Musikers, Schriftstellers usw. Die Fliege kennt keine Tabus, sie kriecht zu den Toten in Staub und Dreck und lässt sich dann auf Schultern von Politikern, Priestern und Philosophen nieder, sie ist auch Zeitreisende und pflegt auch die Sprachformen der Vergangenheit und Toten.
Das Elementare
Wer wird zeugen von dem, was verschwunden ist, was gibt Hoffnung? Der Verlag des HERRN 冊 – zugleich Buchhandlung in Großwolfgers im Waldviertel – ist ein lebendiger Ort der Erinnerung und des Gedenkens, eine Versammlung von Lebenden und Toten, egal ob du ihn als Lesender, Betrachtender oder Schreibender betrittst, wirst du in ein Gespräch mit Stimmen bekannter, unbekannter, vergessener Namen verwickelt, du betrittst das Gedächtnis des Menschen, der diese Bücher verlegt hat, deren Lektüre ins kollektive Gedächtnis führen. Die Lektüre konfrontiert mit Elementarem, mit uralten Ängsten und Bedrohungen, mit Glück und Bedürfnissen, die scheinbare Selbstverständlichkeiten und Zwangsläufigkeiten verdecken, verzerren. Diese Erfahrungen setzen die Lappalien des Aktuellen, Modischen, die Hysterie von Technik- und Fortschrittsglaube außer Kraft. Die Bewegung der Sprache hat einen eigenen Rhythmus, sie verlangsamt, verzögert, unterbricht. Es braucht Zeit und Geduld, dass die Menschen zu Dingen und Lebewesen eine dauernde, wachsende Beziehung aufbauen, wenn sie sehen, wie sie sich über die Jahreszeiten und Jahre entwickeln und verändern, Höhen und Tiefen überstehen, es braucht Zeit, um sich und eine Gemeinschaft zu bilden, anstatt wegzuwerfen, abzuschlagen, zu trennen. Lebendiges, Menschliches muss sich bilden, reifen dürfen, Wachstum verlangt eine eigene Geschwindigkeit, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, die es gegen die Zumutungen von Geschichte, Gesellschaft und Politik, gegen Einschränkungen, Normen und Auslesekriterien zu verteidigen gilt, die Macht- und Profitinteressen folgen und weit hinter dem zurückbleiben, was Leben und Wirklichkeit ist, hinter dem, was möglich wäre.
„Willst du zum 10-Uhr-Kaffee oder in den Verlag?“, war die erste Frage bei der ersten Begegnung. Der Mensch hat selbst zu entscheiden, selbst die Initiative zu übernehmen, er soll wissen, was er kann, können und wissen will, das erfordert Kraft und Bewegungsenergie, die nur der hat, der in Liebe und Leidenschaft, in Büchern und Landschaft zu verschwinden vermag, um sich mit deren Kräften kurzzuschließen. Wünschen lässt sich da nichts, da der Wunsch längst kein Mangel mehr ist, sondern eine schöpferische Kraft, die bis zuletzt aufs Ganze geht.
Axel Ruoff ist Autor und Lektor. Anlässlich des Jubiläums hat er die Verlagsanthologie Schlangen Schauen. Anthologie des Arabesken herausgegeben.
[Dieser Text ist ursprünglich am 20. Juni 2019 im Onlinemagazin Faust-Kultur erschienen: (☞).]