DesertLotusNest
Anmerkungen zur Poetik des Phönix
Isabella Breier
ISBN: 978-3-99028-679-1
19×11,5 cm, 530 Seiten, Klappenbroschur
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Kurzbeschreibung
„Wirklichkeit vermag zu verstümmeln, wenn man sich nicht vorsieht. Und um sich vorzusehen, braucht man Augen, munter genug, um nicht umstandslos zuzufallen, hinter der Wirklichkeit.“
Esther, akademische Ghostwriterin, fährt zu Recherchezwecken durch die andalusische Wüste, wo sie eine verblüffende Entdeckung macht: Ein Resort mit Erdbeerfeld, Föhrenwäldchen und Tuffsteinhöhlen, einer Veranda voller Hängematten – die österreichische Arbeitslosenkursmaßnahme DesertLotusNest. Genauso heißt ein Odyssee-Gedicht des von ihr erforschten Philosophen Antoine Bachsirad …
DesertLotusNest ist Road Novel und Schelmenstück, Wissenschaftssatire und lyrische Prosa. Ein Roman voller Turbulenzen, ein poetisches Spiel rund um prekäre Lebensformen, Zumutungen und Zwänge gegenwärtiger Gesellschaft.
literadio-Sendung »aufdraht: Frankfurter Buchmesse 2017« vom 14. Oktober 2017 zu Isabella Breiers DesertLotusNest, Redakteurin: Daniela Fürst
Rezensionen
Barbara Rieger: [Rezension]Die „Odyssee“ (Homer) und „Ulysses“ (Joyce) sind nichts dagegen. Mit Isabella Breiers „DesertLotusNest“ kann es höchstens die „Philosophie der Odyssee“ aufnehmen, das „bahnbrechende, dreibändige kulturphilosophische Hauptwerk“ des Philosophen Antoine Bachsirad, dessen Vermächtnis die Protagonisten des Romans beschäftigt und miteinander verbindet.
Wie dem Anhang des Buches sowie den 2021(!) von Isabella Breier herausgegebenen Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“. Überlegungen zu Antoine Bachsirad zu entnehmen ist, wurde dieser 1879 in Spanien geboren und starb 1979 „als Hundertjähriger in der selbst gewählten Einsamkeit seines portugisieschen Ferienhäuschens irgendwo am südwestlichen Zipfel der Alten Welt.“ (S. 526)
In den beiden Jahren vor seinem Tod schrieb er „an seinem letzten, erst postum (im Rahmen des Nachlasses) editierten u. publizierten Manuskript: Poétique du Phénix (auf Dt. 2018: Poetik des Phönix).“ (S. 526), welches für den Untertitel des Romans verantwortlich ist.
Nicht minder bedeutend für den Roman ist das „rätselhafte, von zahlreichen Topoi der antiken ‚Odyssee‘ wimmelnde, insbesondere mit der Lotophagen-Szenerie spielende, neunundvierzigseitige Langgedicht DesertLotusNest.“, welches 1947 in einem spanischen Literaturmagazin erschien. (S. 522) Denn DesertLotusNest ist auch der Name einer österreichische Arbeitslosenkursmaßnahme, die ein zentrales Element des Buches darstellt.
In fünf Kapiteln auf rund 500 Seiten irren die Haupt- und Nebenfiguren durch das Werk des Philosophen, durch ihr von prekären Arbeitsverhältnissen und belastenden Familienverhältnissen bestimmtes Leben, durch eine Welt, in der „niemandem seine Gestalt bleibt“ (Ein Ovid-Zitat und Schlüsselsatz, der an mehreren Stellen zitiert wird, z.B. S. 366).
Erzählt wird anachronistisch, zum Teil von einer im Verborgenen bleibenden Erzählinstanz, zum Teil erzählen einander die Figuren ihre Erlebnisse oder schreiben sie auf. Sie schreiben wissenschaftliche Abhandlungen, Tagebücher, Reisereportagen, Geschichten, Gedichte und streichen sie mitunter wieder. Nicht immer ist klar, was Traum, Imagination und was Wirklichkeit ist, nicht immer fügt sich alles zusammen, denn was für die Poetik des Phönix gilt, gilt zum Teil auch für dieses Buch: „Sogar in seinen leichter ‚zugänglichen‘ Passagen trotz die ‚Poetik des Phönix‘ jeder stringenten Logik.“ (S. 423)
So vielfältig die Textsorten, so vielfältig ist die Sprache, darunter auch lyrische Prosa, wie im Klappentext zu lesen ist. Oft nimmt sie Fahrt auf, verfügt über einen rasanten Rhythmus, der zum Weiterlesen zwingt. Immer wieder ist sie betörend und opulent und immer wieder bricht sie mit sich selbst. Es wird mit der Erzählperspektive gespielt, Passagen werden unterbrochen, relativiert, Textstellen durchgestrichen und Monologe in Spalten abgedruckt.
Jedes der fünf Kapitel beginnt mit einem Beitrag aus dem 2021 herausgegebenen Werk von Isabella Breier, der jeweils von einer der Hauptfiguren verfasst wurde: Esther Weninger-Cordialis, Bachsirad-Expertin und alleinerziehende Mutter; Zahra Klaric, Bachsirad-Expertin und Journalistin und Leonore Berger, (ehemalige) Deutschtrainerin, die mit 50+ arbeitslos wird und fiktive Reiseberichte schreibt.
I
Im ersten Kapitel stammt der einleitende Ausschnitt von Esther, die sich in der andalusischen Wüste befindet: „ich stehe auf meinem ebenerdigen Balkon, glotze auf Kakteen, Oleander und Olivenbäume, und dahinter zieht sich, zwischen den Gebirgsketten Los Filabre und Alhamilla, der Desierto de Tabernas.“ (S. 9 und 37) Sie telefoniert. Was sie erzählt, wird von einer weiteren Erzählinstanz protokolliert. „Aber ich schweige, schweige und protokolliere.“ (S. 42).
Mitten in der Wüste trifft Esther auf Demodokos Papadopoulos, einen Altgriechischlehrer aus Wien, welcher sicherlich nicht zufällig den gleichen Namen wie der Sänger aus Homers Odyssee trägt. Dieser wartet auf einer Picknickdecke auf seinen Kollegen Chrístos. Gemeinsam mit ihm ist er aus dem DesertLotusNest getürmt. In dieser „Wohlfühloase“ können österreichische Arbeitslose es sich den ganzen Tag lang gut gehen lassen. Demodokos ist der einzige, dem dies seltsam vorkommt, sein Kollege ist längst wieder dorthin zurückgegangen. Wenn Esther nicht von ihrer Freundin Leonore, die im Weiterbildungsbereich beschäftigt ist/war, bereits vom DesertLotusNest gehört hätte, würde sie es nicht glauben.
Auch Zahra telefoniert, vom südwestlichen Zipfel des Kontinents, mit derselben Erzählinstanz, auch Zahra kennt Leonore. Zahra, die an einem Nachlassprojekt zu Antoine Bachsirad mitarbeiten sollte und ihre eigene Odyssee hinter sich (oder vor sich) hat, erinnert sich: „Denn statt des groß angekündigten, in höchsten Tönen beschwärmten Bachsirad-Projekts hatte Zahra von Anfang an ein über Übliches weit hinausreichendes Chaos vorgefunden. Ein ständig sich wiederholendes, ständig aufs Neue nicht eingehaltenes Versprechen. Aber zumindest in der Landschaft war damals noch alles da und so gewesen, was und wie's im Buche stand: inklusive Bananenstauden, Mandel- und Walnussbäumen, Mimosen, Pfingstrosen und Rhododendren. So vieles, glaubt Zahra, würd sie erinnern, an die letzten Wochen denken oder vielmehr, vor und zwischen allen Dingen, den sichtbaren wie unsichtbaren, den Satz: all diese verspielten, nein, verlorenen Wochen, das könne, dürfe nicht wahr sein. Wie sie den Kopf schüttelt, nur für sich, das würd sie erinnern.“ (S. 51f)
Leonore hingegen liegt in Wien in ihrem Bett und schreibt von dort aus Reisereportagen, unter anderem über Wüsten. Auch sie telefoniert mit der Erzählinstanz und „gibt mir gegenüber zu, neuerdings mehr zu streichen als zu schreiben“. Teile dieser Reportagen mitsamt den Streichungen sind ebenso abgedruckt wie Leonores Skizzen, die „Idioten“, die die Situation bei Leonores (ehemaligem) Arbeitgeber Benu-Up beschreiben, der für das DesertLotusNest verantwortlich ist.
Da die Erzählinstanz sich weigert, sich von Leonore vorlesen zu lassen, wendet diese sich an Max, einen Sozialwissenschaftler, der mit den drei Hauptfiguren bekannt ist.
II
Im zweiten Kapitel „protokolliert“ (S. 94) die Erzählinstanz, wie Zahra während eines Aufenthalts in Slowenien vor zwei Monaten die Zusage zur Mitarbeit an Bachsirads Nachlass bekommen hatte. Wir erfahren mehr über das Werk und Leben des Philosophen, wir erfahren, dass Zahra mit Max zusammen ist, der sich über die Zusage keineswegs freut, da Zahra seiner Meinung nach viel zu wenig Zeit zu Hause verbringt. Zahra erkennt gleich darauf einen Mann aus ihrem Traum wieder, den sie Püppchengesicht nennt und den sie sofort zu einem surrealen Blogeintrag verarbeitet. Auf einer weiteren Zugfahrt fühlt Zahra sich, als würd sie „wegen Schönheit platzen“ (131), denkt über Bachsirad und Max nach, zu dem sie nicht zurückkehrt.
Die Erzählinstanz „erinnert“ (S. 142) Leonore vor fünf Monaten, die wiederum Zahra am Telefon aus ihren Skizzen vorliest (betitelt mit „Idioten“), die längere Szenen im Erwachsenenbildungsinstitut Benu-Up wiedergeben.
Außerdem wird Esther vor sechs Monaten „fixiert“ (167): Sie befindet sich in der Sprechstunde eines HNO-Arztes, den sie wegen eines nicht enden wollenden Brummtons in ihrem Ohr konsultiert, sie befindet sich in einem Traum, aus dem sie durch die Stimme ihrer Tochter Sophie und durch einen Anruf von Max geweckt wird. Ihm erzählt sie bei einem Treffen einen weiteren langen Traum, der nur durch die Ankunft Leonores unterbrochen wird. Wir erfahren, dass die drei gemeinsam einen Forschungsantrag zu einer Glücksstudie planen. Wir erfahren von Esthers Überforderung als alleinerziehende Mutter (vor allem durch ihre pubertierende Tochter Sophie) und dass sie sich als akademische Ghostwriterin Geld dazu verdient, wir erleben ihren Gewissenskonflikt, als sie sich schließlich dazu entscheidet, das Ghostwriting für eine Dissertation zu Bachsirad anzunehmen, zu dem sie selbst – genauso wie Zahra – promoviert hat.
III
Das dritte Kapitel beginnt mit einem Ausschnitt von Leonore in Breiers Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“, und ihrem Text „Benu-Up – das Meeting: Irgendwas stinkt zum Himmel!“ In diesem wird von der Vorstellung des DesertLotusNest – Projekts am Erwachsenenbildungsinstitut erzählt. Wir erfahren, dass die KundInnen, „sich im Vorfeld bereit erklären würden, ihren Aufenthalt vom Evaluierungsunternehmen aufzeichnen und eventuell ausschnittsweise zeigen zu lassen.“ (238f) An dieser Stelle tritt auch ein gewisser Herr Maniok auf und proklamiert: „Ich habe die Idee gehabt! Ich allein! Mir ist das DesertLotusNest zu verdanken. Mir und meiner Liebe zu Antoine Bachsirad. Und freilich diesem wunderbarsten aller wunderbaren Gedichte. Bachsirads poetisch-utopisches ‚DesertLotusNest‘, das keine Sau zu kennen scheint!“ (S. 251). Leonores heftige Kritik an diesem Projekt führt im Weiteren zu ihrer Kündigung.
Die Glücksstudie von Max, Esther und Leonore wird abgelehnt, Max bekommt aber die Zusage für ein Armut- und Reichtumsstudienprojekt. Während er begeistert darüber erzählt, platzt Leonore mit der Nachricht von ihrer Kündigung heraus, es wird die ethische Moral von Esthers Ghostwriting diskutiert und getrunken. Wir tauchen in Esthers Tagebuch und ihre Lebenswelt ein, Esther, deren Überforderung durch die Arbeit an der Dissertation steigt und sich zum Brummton in ihrem Ohr steigert. Sie beginnt von der Wüste – vom Desierto de Tabernas – zu träumen.
Wir sind bei Zahra, die direkt nach Lissabon geflogen ist, woraufhin Max sich von ihr trennt. Beim Welcome Dinner trifft sie auf das „Püppchengesicht“, das sich als Albert Casini vorstellt. Er schreibe gerade seine Dissertation zu „Bachsirads Anmerkungen und Interpreation der Odyssee“ und habe den gleichen Ansprechpartner wie sie, einen gewissen Eugenio Tupez-Baril. Zahra verliebt sich sofort in Albert, spaziert mit ihm durch Lissabon und verfasst (unter anderem) geschwollene Reisenotizen.
IV
Im vierten Kapitel begeben wir uns mit Esther und Demodokos auf den Weg ins DesertLotusNest. Zu Demodokos Unbehagen fühlt Esthers sich an diesem Ort sehr wohl und beginnt einen Vortrag über Grenzen und Entgrenzung zu halten, der nicht zu stoppen ist.
Zahra wiederum träumt von Albert, erinnert sich, dass sie in Lissabon krank wurde, während sie sich längst in einem Auto am Parkplatz befindet, weiterfährt: „Dieser Moment, als Zahra wusste: Dass die (als wundersamerweise entdeckt geheißenen) Schriften und akustischen Aufzeichnungen Bachsirads hier jedenfalls nicht aufzutreiben. Der Moment, als offensichtlich, dass es da kein entsprechendes Gebäude gebe, geschweigedenn eine richtige, betriebsame Forschungseinrichtung-Dependance. Und trotzdem: weitergehen, weiter. Suchen, versuchen, im Rahmen der Möglichkeiten.“ (375f) Zahra macht sich in der Nacht alleine auf den Weg, schwimmt im Meer, und kommt dabei fast um.
Leonore befindet sich ebenfalls am Wasser, auf einem Tretboot mit Max und lamentiert über ihre Arbeitslosigkeit. Dass sie als Autorin von Reiseberichten äußerst erfolgreich ist, auch finanziell, zählt für sie nicht.
V
Im fünften Kapitel denkt Zahra über ihren Tod nach, wir folgen ihr durch mehrere Traumsequenzen: „Dachte, denkt, sie wache auf. Dachte, denkt, die brechenden Wellen zu sehen, gesehen zu haben. Dachte, denkt, die brechenden Wellen zu hören, gehört zu haben. Hätte drauf schwören können, aufgewacht zu sein. Aus irgendeinem Traum im Traum im Traum im Traum.
Irgendwer mit ihrem Blick schaut aufs Meer. Irgendwer mit ihrer Stimme sagt: Schwierig. Schwierig. Diese Geschichte mit der Urteilskraft.“ (S. 458)
Leonore versucht vergeblich Zahra zu erreichen, sie läuft im Wald umher, beschwert sich weiterhin bei Max über ihre Arbeitslosigkeit und bewirbt sich letztlich sogar um einen Platz im DesertLotusNest.
Demodokos versucht vergeblich Esther aus ihrer Höhle im DesertLotusNest heraus zu bekommen, in der sie es sich eingerichtet hat. Zu diesem Zweck zitiert er sogar die Odyssee: „Aber die Lotophagen beleidigten nicht im geringsten unsere Freunde; sie gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten. Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet, dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr: sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.“ (S. 471)
Später trifft Demodokos auf Herrn Manok und Albert und kommt mit ihnen ins Gespräch. Hinzu stößt Eugenio Tupez-Baril, der offensichtlich nicht nur mit dem Nachlass von Bachsirad, sondern auch mit dem Evaluierungsprojekt des DesertLotusNests zu tun hat, wenn auch wie er behauptet nur „peripher“.
Er nennt die Maßnahme „Lotophagen unter hochmodernen Bedingungen.“ (482)
Als das Gespräch auf Esther und ihre Arbeit kommt, wird Albert hellhörig und erklärt sich bereit, Demodokos zu helfen, Esther aus dem DesertLotusNest zu holen. Die Dissertation – natürlich für Albert – ist Esther zwar egal, doch schließlich erreicht sie ein Anruf, dass ihre Tochter Sophie einen Unfall hatte und sie verlässt das DesertLotusNest.
Abschließend ist ein E-Mail aus dem Jahr 2021 an die Haupt- und Nebenfiguren des Romans abgedruckt, in dem sich eine gewisse I.B. für die „(im Übrigen äußergewöhnlich spannenden, ungemein vielfältigen sowie perspektivenreichen) Textbeiträge“ bedankt, welche in den „Anmerkungen zur Poetik des Phönix“ erscheinen werden. Sie sendet herzliche Grüße aus dem DesertLotusNest.
Die – hauptsächlich von Demodokos und Leonore gestellte – Frage nach Sinn und Unsinn der Arbeitsmarktmaßnahme DesertLotusNest bleibt unbeantwortet und steht dabei stellvertretend für den Sinn und Unsinn zahlreicher vergleichbarer Einrichtungen und Maßnahmen, die unsere Gesellschaft hervorbringt.
Auf einer anderen Ebene steht das DesertLotusNest – als Land der Lotophagen – stellvertretend für einen Sehnsuchtsort der Protagonistinnen. Als Intellektuelle, AkademikerInnen und Geistesmenschen protokollieren, analysieren sie ihr Handeln und ihre Situation zwar ständig sehr ausführlich, kommen aber dennoch – oder gerade deswegen – niemals bei sich an. In unterschiedlichem Ausmaß sehnen sie sich – wie wir alle? – danach, Lotus zu essen und zu bleiben.
Ein unglaubliches Buch!
(Barbara Rieger, Rezension im Buchmagazin des Literaturhaus Wien, online erschienen am 5. Februar 2018)
https://www.literaturhaus-wien.at/review/desertlotusnest/
Stephan Lesker: Drei Frauen und ein Philosoph
Isabella Breiers DesertLotusNest weckt ein Bewusstsein für die Absurditäten im Leben.
Das Jahr 2021 wird etwas Großes bringen. Isabella Breier wird dann einen Sammelband herausgeben, der uns endlich das Werk des großen Philosophen Antoine Bachsirad erschließen wird. Größen der Bachsirad-Forschung kommen zu Wort und werden die Poetik des Phönix, das Alterswerk des Universalgelehrten, deuten. Allen voran Esther Wenger-Cordialis, Zahra Klaric und Leonore Berger.
Wenn Sie nicht wissen, wer Antoine Bachsirad ist, sollten Sie das schnellstens ändern. Er gilt als „Meister der textuellen Störfaktoren“ und ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie sowie in Sachen des kollektiven, kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses. Als Ende der 1970er Jahre sein Opus Magnum, die Analyse von Homers Odyssee, erschien, berichtete sogar die Bild darüber, die ja sonst eher nicht für intellektuell Hochwertiges zu haben ist. Auch durch ein episches Langgedicht mit dem Titel DesertLotusNest hat er sich einen Namen gemacht. Nicht ganz zufällig trägt eine Kursmaßnahme für Arbeitslose, die von der österreichischen Arbeitsagentur und dem privaten Bildungsträger Benu-Up in der spanischen Wüste ausgerichtet wird, ebenfalls diesen Namen.
Soweit die Fiktion. Einen Philosophen namens Bachsirad hat es nie gegeben, was nicht bedeutet, dass sich hinter der Figur nicht auch mehrere bekannte Denker verbergen könnten. Ich persönlich hoffe allerdings, dass Isabella Breier trotzdem einen Sammelband zu ihm herausgeben wird, denn ihr Roman über Bachsirad, drei Frauen, die sich alle mehr oder weniger mit ihm beschäftigen, und über die Absurdität bestimmter Angebote in der Erwachsenenbildung ist schlichtweg genial.
Prinzip I: Drei Frauen und ihr gemeinsames Zentrum
Der Roman der österreichischen Autorin ist eine Mischung aus Wissenschaftssatire, philosophischer Erzählung und Reiseabenteuer.
Esther Wenger-Cordialis ist große Bachsirad-Verehrerin und verdient ihr Geld, indem sie für andere Leute akademische Abschlussarbeiten schreibt. Als eines Tages das Angebot, für jemanden eine Dissertation über ihren Lieblingsphilosophen zu schreiben, ins Haus flattert, ist sie Feuer und Flamme. Ihre Recherche führt sie in die spanische Wüste, wo es ein Bachsirad-Forschungszentrum gibt. Dort trifft sie auf einen scheinbar verstörten Mann, der etwas von „Arbeitslosen“ und „Fortbildung“ faselt und sie schließlich in das besagte Kurszentrum führt, das sie allein schon dadurch begeistert, dass es den Namen des berühmten Bachsirad-Gedichtes trägt.
Leonore Berger ist Kursleiterin bei Benu-Up, dem Schirmherrn des DesertLotusNest. Sie wird aber entlassen, da sie mit bestimmten Vorgesetzten nicht zurechtkommt und die Absurdität des Kurszentrums sofort erkennt. Fortan schreibt sie Texte darüber.
Zahra Klaric verdient ihr Geld mit dem Schreiben von Blogeinträgen. Sie bewirbt sich auf eine Stelle im Bachsirad-Forschungszentrum und wird – sie weiß selbst nicht recht, warum – prompt eingestellt.
Die drei Hauptfiguren des Romans sind also alle irgendwie mit Antoine Bachsirad verbunden. Er bildet das Zentrum des Textes und den Lebensmittelpunkt der drei. Dieses Prinzip verfolgte Breier auch schon in ihren vorangegangen Büchern, und sollte es einst einen Sammelband über ihr Werk geben, wird man diesen Sachverhalt analysieren müssen. In Prokne & Co sind es Priska und Philina, deren Zentrum die Intrige von Priskas Ehemann Timo ist. In Allerseelenauftrieb sind es Melike, Milena und Maja, deren Existenz um die Tragödie im Leben ihrer Freundin Mavie kreist.
Prinzip II: Das Ringen mit Texten
Neben dieser für Isabella Breier typischen Konstellation gibt es aber noch ein zweites Formprinzip des Romans, das man als „Text im Text“ bezeichnen könnte. Zahras Blogeinträge, Esthers Ghostwriting, Leonores Texte über das DesertLotusNest und nicht zuletzt die Beiträge des eingangs erwähnten Sammelbandes werden immer wieder in die Erzählung eingeschaltet. Die Figuren kämpfen dabei erbittert mit ihren Texten, sind unzufrieden damit und korrigieren, wo sie können. Besonders Zahra, die Leonores Texte lesen oder hören darf, erweist sich dabei als unbestechliche, mitunter hundsgemeine Korrektorin. Der Roman ist auch ein Buch über dieses Ringen mit den eigenen Texten, das die drei Frauen, ihr Zentrum Bachsirad und die Autorin selbst gleichermaßen auszeichnet. Kein Satz in diesem Buch versteht sich von selbst. Jeder ist des Nachdenkens wert, so befremdlich er u. a. durch das oftmalige Weglassen des Hilfsverbs auch erscheinen mag. Die unverwechselbare Sprache des Romans verweist dabei auch auf ihren Werkzeugcharakter. Nur sie ist es, die den Lebensunterhalt der drei Frauen garantiert. Sie ist es, die Bachsirads Werk so anziehend machte und sie ist das Mittel, mit dem eine Einrichtung wie das DesertLotusNest scheinbar gerechtfertigt werden kann. Neben Bachsirad bilden die Sprache und der Kampf mit ihr eine Art zweites Zentrum des Textes.
Die Absurdität des Alltags
Breiers Roman ist philosophisch aufgeladen, es steckt eine Poetik dahinter. Darüber hinaus macht er auch noch Spaß, indem er den Blick auf die Absurditäten lenkt, die uns alltäglich begegnen. Es mag übertrieben klingen, wenn Kurse für österreichische Arbeitslose in der spanischen Wüste abgehalten werden. Wenn diese Kurse dann aus Kameltrekking und Survivaltraining bestehen, ist die Übertreibung perfekt. Wenn dann allerdings diese Bildungsangebote auch noch vom privaten Fernsehsender des Bachsirad-Zentums übertragen werden, es sich also um eine Art Dschungelcamp für Erwerbslose handelt, dann mag es so scheinen, als habe die Autorin das Maß des Erträglichen überschritten. Wer allerdings in den fragwürdigen Genuss gekommen ist, einen echten Fortbildungskurs für Arbeitslose mitzumachen, der wird finden, das in dieser Übertreibung mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckt: Da sitzt (und dieses Beispiel entspringt keinesfalls meiner Phantasie) ein studierter Informatiker in einem Grundlagenkurs zur Bedienung von Computern. Wohlgemerkt als Teilnehmer, nicht als Kursleiter. Das ist für sein berufliches Fortkommen ungefähr so sinnvoll wie Kameltrekking.
Phasenweise ist das Buch schlicht brillant. Die Schilderung der Fusionssitzung der beiden Bildungsträger Benu und Up muss sich hinter ähnlich satirischen Szenen aus der Weltliteratur, in denen bestimmte Gremien auf die Schippe genommen werden, nicht verstecken. Die Persönlichkeiten sind in einer Weise dargestellt, die ich maßvoll-überzeichnet nennen würde. Die Szene erinnert ein wenig an die grandios beschriebene Sitzung einer Literaturjury aus Walter Kempowskis Hundstage. Die Hauptfigur Alexander Sowtschick schlägt hier, angeödet vom Palaver der anderen Juroren, ein Buch zur Auszeichnung vor, weil es schöne Schrifttypen aufweise. („Offensichtlich Handsatz.“) Solche ähnlich sinnvollen Wortmeldungen geistern auch durch die Benu-Up-Sitzung. Der satirische und entlarvende Blick Breiers erinnert auch ein wenig an Rohrdommels Verhör aus Friedrich Gottlieb Klopstocks Gelehrtenrepublik. Neben Klopstock und Kempowski, die beim Lesen nur punktuell in das Bewusstsein rücken, erinnert die gesamte Komposition und Anlage des Romans an die megalomanen Bücher von David Foster Wallace. Dies soll als persönliche Assoziation genügen. Sie gibt vielleicht einen ungefähren Eindruck davon, was in Isabella Breiers Roman zu erwarten ist.
Fazit
Im Grunde begegnen uns in diesem Buch nur Verrückte: Esther ist geradezu besessen von Bachsirad, die Entscheidungsträger von Benu-Up sind schlicht irrsinnig, wenn sie ihre Kurse für eine gute Idee halten, und auch in Bachsirad scheinen Genie und Wahnsinn nah beieinander zu liegen. Aber genau daraus entspringt die Faszination des Romans. Die Verrückten, so stellt Zahra einmal fest, haben sich wenigstens einen Rest Individualität bewahrt. Am verrücktesten ist aber wohl Ludwig Manok: Ihm ist die Idee zum DesertLotusNest zu verdanken. Ursprünglich hatte er es als Rückzugsort konzipiert, als „Eutopie“, wo jeder seinem Recht auf Faulheit nachgehen kann. Dieser Einfall ist natürlich idealistisch, ja beinahe anrührend. In einer Zeit, in der jede Sekunde, die man nicht in der Informationsflut der modernen Medien und im Leistungsdruck der Gesellschaft verbringt, verloren scheint, wirkt dieser Gedanke wie ein Relikt aus einer anderen – vielleicht besseren – Welt. Leider hat das bei Benu-Up keiner verstanden.
(Stephan Lesker, Rezension für: Glitzernde Wörter, online veröffentlicht am 6. Februar 2018)
https://glitzerndewoerter.wordpress.com/2018/02/06/isabella-breier-desertlotusnest/
Mathias Ziegler: Eine Arbeitslosenelegie
Isabella Breier: „DesertLotusNest“ – eine literarische und philosophische Odyssee als zynische Satire über unsere Leistungsgesellschaft.
Der fiktive Philosoph Antoine Bachsirad (1879 bis 1979) und seine „Odyssee“-Analysen sind der Dreh- und Angelpunkt für Isabella Breiers neuen Roman „DesertLotusNest“, der sich auf drei Ebenen abspielt: Es gibt drei Hauptprotagonistinnen, die jede ihre ganz eigene Odysee erleben.
Da ist zum einen die prekär beschäftigte „Wissensarbeiterin“ Zahra, die mit Anfang vierzig auf die Jagd nach einem angeblich aufgetauchten Bachsirad-Nachlass geht – soll man es nun Schnitzeljagd oder eher Irrfahrt nennen, was sie dabei durchläuft? Gleichzeitig arbeitet die Enddreißigerin und zweifache Mutter Esther an einem akademischen Ghostwriting-Auftrag zu Bachsirads „Odyssee“-Abhandlung und landet im Zuge ihrer Recherchen in einem Wüstencamp für Arbeitslose namens „DesertLotusNest“ (so heißt auch ein Langgedicht von Bachsirad, auf das im Roman Bezug genommen wird). Die Dritte im Bunde schließlich ist Leonore, Anfang fünfzig, die nach ihrer Kündigung beim Arbeitslosencampbetreiber Benu-up nun zuhause in Wien über das „DesertLotusNest“ schreibt und wie weiland Karl May über fiktive Abenteuerreisen fantasiert, die sie zu Papier bringt.
Daraus ergibt sich ein Roman, den man durchaus als modernes Roadmovie bezeichnen könnte, getragen von drei Frauen, die miteinander in Beziehung stehen, in Beziehung treten, sich gleichzeitig (auch von sich selbst) entfremden. Daneben tauchen noch andere Figuren auf, allesamt (zum Teil sehr) schräge Vögel, die mehr oder weniger mit dem Bootcamp oder mit Bachsirad zu tun haben – oder mit beiden. Und natürlich sind weder der Titel des Romans noch jene der darin vorkommenden Bücher samt ihren Themen Zufall. Das beginnt beim (heimeligen? naja) Lotus-Nest in der Wüste (engl. „desert“), geht über die „Odyssee“ (in der Handlung stecken mehr als eine) und endet beim Phönix, jenem sagenhaften Vogel, der aus der eigenen Asche aufersteht.
Man braucht freilich einiges an Durchhaltevermögen, denn Breiers Text ist zwar gespickt mit Satire und hämischem Humor, aber doch auch stilistisch und philosophisch anspruchsvoll. Es ist hohe Literatur, nichts für einmal bloß rasch durchlesen. Die will schon, dass man sich Zeit für sie nimmt und sich damit in Ruhe hinsetzt, damit sie ordentlich verdaut werden kann. Vor allem gilt es zwischen den Zeilen auf der sogenannten Metaebene zu lesen. Dann erkennt man auch die vielen Spitzen, die Breier (ganz bewusst oder vielleicht auch zufällig?) hineingewebt hat. Allein schon die Leistung, einen ganzen Philosophen samt seinem Gesamtwerk zu erfinden, muss entsprechend honoriert werden.
(Mathias Ziegler, Rezension in der Wiener Zeitung vom 2. März 2018)
Helmuth Schönauer: [Rezension]
Im idealen Roman steigt man als Leser nicht nur ein bisschen aus, sondern vollkommen. Der ideale Roman liefert neben den Heldinnen und der Handlung daher gleich auch das Wertesystem mit, mit dem man der fiktionalen Fliehkraft begegnen kann.
Isabella Breiers Roman tritt in Gestalt eines wissenschaftlichen Handbuches auf. Der Titel deutet auf eine Rarität hin, die gerade entdeckt und erforscht worden ist, die Anmerkungen zur Poetik des Phönix zeigen unbekannte Studien, und ein Fußnotenapparat zitiert ein Werk der Autorin, das erst in ein paar Jahren erschienen sein wird.
Obwohl die einzelnen Quellen und Theorien wunderbar miteinander verzahnt sind, ist doch gegenüber der Wissenschaft Obacht geboten, vielleicht nämlich ist alles ganz anders.
So ist DesertLotusNest eine Freizeitanlage auf der iberischen Halbinsel, die von einem Erwachsenenbildungsinstitut betreut wird. Langzeitarbeitslose können hier ähnlich unterhalten werden wie sonst Schwer-Erziehbare auf Segelschiffen. Neben dem Relax gibt es vor allem Bildung, und da die übliche Bildung in der üblichen Arbeitswelt nichts zählt, kommt hier ein philosophisches Programm zur Anwendung, das auf einen gewissen Antoine Bachsirad (1879–1979) zurückgeht.
Obwohl dieser Bachsirad im Anhang mit einem hundert Jahre langen Lebenslauf gewürdigt wird, ist er natürlich eine Phantomerscheinung wie seine Lehrstühle und Aufsätze, die er angeblich ab- und ausgesessen hat.
Aber nicht nur die zentrale Figur des Philosophen ist eine Fiktion, auch die handelnden und behandelten Personen sind das, was von ihnen in Romanen erwartet wird: Akteure für die Fiktion. So stellt sich gleich einmal Esther als Ghostwriterin für wissenschaftliche Arbeiten vor, als sie einen Desert-Kunden wie eine Fata Morgana auf dem Wüstenpfad meditieren sieht. Eine Zahra bearbeitet fiktionale Protokolle aus dem Nachlass, eine Leonore ist Spezialistin für das Spätwerk, alle werden am fetten Buch über die Poetik des Phönix mitarbeiten, das im DesertLotusNest entsteht.
Zwischen einem Nest, das es vielleicht so gar nicht gibt, und der Philosophie, die es so nie gegeben hat, tun sich plötzlich Sinnfelder auf, die das Leben erträglich machen, weil sie nichts mehr mit dem Leben zu tun haben. Das ganze Leben nämlich ist vielleicht eine Langzeittherapie, während der man Zustände und Ereignisse wie erzählbare Geschichten beschreibt. Die verschiedenen Nuancen der Erkenntnis sind jeweils mit einem eigenen Schriftbild markiert, es geht aber nur darum, diverse Schichten herauszuarbeiten, zwischen denen wahrscheinlich keine Verbindung besteht.
So liegen dann handelnde Personen, emotionale Gefühlsträger, Ghostwriter und Fake-Literaten in einem Relax-Ressort herum, das mit der restlichen Welt fast nichts zu tun hat, außer dass man manchmal nach draußen telefoniert. Vielleicht ist alles nur eine neue Religion oder ein grandioser Witz.
Isabella Breier ermuntert mit diesem fetten Wissenschaftsroman dazu, diese akademischen Bohrungen einfach als gelungene Löcher stehen zu lassen, die therapeutisch durchaus wertvoll sind. Obwohl in der Hitze von DesertLotusNest kaum gelacht wird, ist dieses sinnlose Bemühen der Protagonisten durchaus zum Lachen. Eine gewisse Lebensbalance sollte man für dieses fröhliche Ameisenspiel freilichmitbringen.
(Helmuth Schönauer, Rezension vom 22. Jänner 2018)
https://lesen.tibs.at/node/6046
Vorarlberger Nachrichten: Zwischen Profitstreben und Gemeinwohl
Isabella Breier legt ein erstaunliches Buch vor.
2022 wird Isabella Breier als Herausgeberin der „Anmerkungen zur ‚Poetik des Phönix‘. Überlegungen zu Antoine Bachsirad“ auf dem großen Internationalen Bachsirad-Kongress gefeiert werden. Die Zeit bis dahin kann man damit verbringen, die Komponenten ihres kürzlich erschienenen Romans „DesertLotusNest“ zu googeln. Zwischenergebnis: Bachsirad gibt es nicht, die spanische TabernasWüste sehr wohl. „DesertLotusNest“ ist ein erstaunliches Buch. Es führt einen sofort auf den Holzweg. Dieser schlängelt sich nicht nur durch Wüstengegenden wie jene der Desierto de Tabernas, sondern auch durch die Minenfelder der Wirklichkeit, an den Absurditäten des Arbeitsmarktservices entlang und hinein in die Sackgassen des akademischen Betriebs.
Breier, 1976 in Niederösterreich geboren und laut Eigenangaben „samt Kleinfamilie hauptsächlich in Wien und zeitweise im Waldviertel sowie in Mexiko“ wohnhaft, hat sich 2005 in ihrer philosophischen Dissertation mit „Dimensionen menschlicher Sinnstiftung in der Praxis“ und dabei vor allem mit Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer auseinandergesetzt. „Wittgenstein wie Cassirer brechen mit der radikalen Opposition von Geist und Leben“, konstatierte sie damals. Ähnliches gilt für ihren Roman. Wenn in der andalusischen Wüste österreichische Arbeitslose in einem Trainingsprogramm unter dem Namen eines schwer zugänglichen Langgedichts eines verstorbenen philosophischen Rauschebarts Kamele reiten und Erdbeeren anpflanzen, dann sind alle Grenzen zwischen Erfindung und Vorfindung verwischt. Die Lektüre beginnt man am Besten mit den biobibliografischen Angaben zu Antoine Bachsirad (1879–1979). Denn der ist, im Gegensatz zu Wittgenstein und Cassirer, komplett erfunden.
Genüsslich
Das zweite Grundthema des mit Zeitsprüngen, Traumsequenzen und vielen kursiven Einschüben nicht eben einfach lesbaren Buches ist die Auseinandersetzung mit dem (nicht nur akademischen) Prekariat. Einerseits müssen die ausgebildeten Philosophen auf teils abenteuerlichen Wegen versuchen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, andererseits werden wir Zeugen der Fusion zweier Erwachsenenbildungsinstitute, die sich eine Monopolstellung für AMS-Schulungsmaßnahmen erarbeiten. Genüsslich stellt Breier das Profitstreben des Unternehmens gegen den eigentlich am Gemeinwohl orientierten Grundauftrag.
(Rezension in den Vorarlberger Nachrichten vom 14. April 2018)
https://www.vn.at/kultur/2018/04/13/zwischen-profitstreben-und-gemeinwohl.vn
Peter Pisa: Genug für das heurige Jahr
Hat man dieses Buch der Niederösterreicherin Isabella Breier in Händen (bzw. hat einen dieses Buch im Griff), so hat man für heuer genug zu kauen. Die Odyssee dreier Frauen, alle ein wenig seltsam. Ein Camp für österreichische Arbeitslose in der Wüste – Satire gegen die Leistungsgesellschaft. Und ein erfundener Philosoph. Warum nicht drei Romane?
(P. P., Rezension im Kurier vom 18. April 2018, S. 23)
ORF Radio Oberösterreich: [Rezension]
[…] Die Hochqualifizierten
Rund um die drei schreibend tätigen Frauen Zahra, Leonore und Esther siedelt die Autorin Isabella Breier ihren Roman „DesertLotusNest. Anmerkungen zur Poetik des Phönix“ an. Alle drei Frauen sind hervorragend ausgebildet und das, was man hochqualifiziert nennt – dennoch hält das moderne Leben im mit seinen Zumutungen und Anforderungen allerhand Irrfahrten bereit. Insbesondere die berufliche Situation ist alles andere als klar und abgesichert. Ist gute Bildung gleichbedeutend mit gutem Leben? Wie viele Möglichkeiten hat der Mensch tatsächlich, um sein Leben zu gestalten?
Arbeitslosen-Maßnahme in der Wüste
„DesertLotusNest“ bezeichnet im Roman eine Arbeitslosenkursmaßnahme mitten in der spanischen Wüste. Sie und die Figur des erfundenen Philosophen Antoine Bachsirad sind zentrale Themen des Buches von Isabella Breier. Die Autorin und studierte Philosophin und Germanistin ist 1976 im niederösterreichischen Gmünd geboren, aufgewachsen in Wels und lebt und arbeitet in Wien. […]
(Aus der Ankündigung zur ORF Radio OÖ-Sendung »Premiere« vom 2. Juni 2018)
https://ooe.orf.at/v2/news/stories/2915688/
Senta Wagner: [Rezension]
[…] Odyssee und Ulysses bekommen ernsthafte Konkurrenz, ist zu lesen. Unserer heutiger Gast, die österreichische Schriftstellerin Isabella Breier, nimmt es in ihrem 2017 im Verlag Bibliothek der Provinz erschienenen monumentalen und herausfordernden Werk DesertLotusNest locker mit den beiden Weltklassikern auf.
Dabei ist das DesertLotusNest schlicht der Name für eine Arbeitslosenmaßnahme, die aber in einen riesigen, mäandernden philosophischen Überbau eingebettet wird. Hinter diesem steckt das Denkergenie Antoine Bachsirad, von dem man freilich bis dato noch NIE etwas gehört hat. Breier ändert das auf vielfältige Weise – mit einem staunenswerten sprachlichen, formalen und typografischen Arsenal und einem schillernden Personal. „Bachsirad liebte es, in und auf allzu gerade Gedankenbahnen Hürden zu hieven, er liebte es, seine eigenen fließenden Überlegungen ruckartig zu stauen oder schroff fortströmen zu lassen, liebte es, zu stören, wenn’s gar zu friedlich schien im Text.“ […]
(Senta Wagner, Rezension für: Der Hotlistblog. Unabhängige Bücher – unabhängige Verlage, 18. Juni 2018)
https://morehotlist.com/2018/06/18/indie-autorinnen-schreiben-isabella-breier-22/
Gabriele Mraz: Odysseen in der Wüste
Wir begleiten drei Frauen zwischen 40 und 50 durch die Odyssee ihres Lebens. Esther ist Alleinerzieherin und im Nebenjob Ghostwriterin für wissenschaftliche Arbeiten. Leonore ist Deutschlehrerin in der größten Arbeitsmarkteinrichtung Österreichs, Benu-Up, wird gekündigt und verfasst fortan erfundene Reiseberichte von ihrem Bett aus. Zahra fährt als Bloggerin und Wissenschafterin in der Welt herum, und wird von ihrem Partner verlassen. Ein Rahmen des Buchs ist ein Buch, das Isabella Breier in der Zukunft schreiben wird, nämlich 2021, es heißt „Anmerkungen zur Poetik des Phönix. Überlegungen zu Antoine Bachsirad.“ Wer ist dieser Bachsirad? Ein fiktiver Philosoph, der jedoch sehr präsent ist – Esther hat über ihn dissertiert und arbeitet auch als Ghostwriterin über ihn. Leonore findet Benu-Up’s neue Arbeitslosenkursmaßnahme – das DesertLotusNest in der spanischen Wüste – sehr suspekt und äußert das vor ihrer Kündigung auch (zu) lautstark – das DesertLotusNest wurde von Bachsirad erfunden. Zahra wiederum wird dafür angeheuert, den Nachlass von Bachsirad zu beforschen, aber das Projekt scheint es gar nicht zu geben.
Isabella Breier, die Meisterin des Konjunktivs, hat einen vielschichtigen, dichten, launigen, manchmal schwülstigen (im Stil von Bachsirad), erfreulich politischen und wissenschaftskritischen Roman vorgelegt, der sich von Seite zu Seite neu entpuppt. Empfehlung!
(gam, Rezension in: WeiberDiwan. Die feministische Rezensionszeitschrift, Sommer 2018)
https://weiberdiwan.at/cms/wp-content/uploads/2018/07/WD_01_2018.pdf#page=17
Manuela Kaltenegger: [Rezension]
Die Autorin beginnt ihr Buch mit der Begegnung von Esther und Papadopulos. Dieser sitzt unter einem Sonnenschirm auf einer Piste in der Wüste. Er ist ein großer kräftiger Mann und die unter ihm liegende karierte Picknickdecke wirkt seltsam lächerlich und deplatziert. Angeblich wartet er auf seinen Freund, der nur für ein paar Minuten hinter den einzigen Büschen sein Geschäft erledigen wollte, doch dieser ist nun schon seit einer dreiviertel Stunde weg. Seltsam und unwirklich, ja unglaubwürdig und unglaublich, findet Esther. Nun gut, die Beiden reden miteinander, sind schnell beim Du und Esther nimmt Papadopulos mit dem Auto mit, der andere Wagen bleibt offenbar am Pistenrand stehen.
Die Rede ist von Benu, dem erfolgreichen Institut für Erwachsenenbildung und einem Resort für Schulungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Von einem künstlichen Paradies mit Erdbeerfeld, Föhrenwäldchen und Tuffsteinhöhlen, von einer Veranda voll Hängematten. Gelehrt wird: Arbeitsmarktwissen, Bewerbungswissen, stilsichere Kommunikation, Körpersprache, Stimm- und Sprachtraining, gesunde Ernährung, Farb- und Outfitberatung, Karrierecoaching, Work-Life-Balance und und und … aber kann sowas wirklich sein? Was genau wird von wem wie evaluiert? Papadopulos zuckt die Achseln.
„DesertLotusNest“ ist Road Novel und Schelmenstück, Wissenschaftssatire und lyrische Prosa. Ein Roman voller Turbulenzen, ein poetisches Spiel rund um prekäre Lebensformen, Zumutungen und Zwänge gegenwärtiger Gesellschaften.
(Manuela Kaltenegger, Rezension in der Bücherschau Nr. 215, 3/2018)
Andreas Tiefenbacher: [Rezension]
Eingebettet in einen wissenschaftlichen Kontext, dessen Galionsfigur der fiktive Kultur- und Literaturwissenschaftler Antoine Bachsirad ist, der als „einer der führenden Köpfe der Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts“ gilt und sich „als genialer ‚Odyssee‘-Experte verdient“ gemacht hat, zeichnet Isabella Breier die Lebenswege von drei akademisch gebildeten Frauen nach und gewährt dabei auf ironisch-kritische Weise erhellende Einblicke in den Wissenschaftsbetrieb wie in die Welt der Job-Center-Agenturen und Erwachsenenbildungsinstitute. Sie zeigt, dass Karrieren, die nicht gleich in die Erfolgsspur finden, weniger ein persönliches Unvermögen zugrunde liegt als systemimmanente Fehlentwicklungen. Denn immer deutlicher kristallisiert sich heraus, dass Bildung als Schlüssel für Einstiegs-, Aufstiegs- und Zukunftschancen „oft genug nicht mehr sperrt“, weil da schlecht bezahlte Trainerinnen und Trainer ihren Frust an Kursteilnehmerinnen abreagieren und so den „riesengroßen Wahnsinn der undemokratischen Supermarktdemokratie des krisenanfälligen Turbokapitalismus im Kleinen“ nähren. Diesbezüglich liefert die Autorin großartiges Anschauungsmaterial: Bei Leonore Berger (Anfang 50, geschieden, ein erwachsener Sohn) liegen die Karriereblockaden vor allem in ihrer „sozialromantischen, um nicht zu sagen kommunistischen Kritiksucht“. Ihrem Arbeitgeber zufolge, dem Erwachsenenbildungsinstitut Benu-Up, wiegelt sie nämlich die Leute auf, was Leonore, die bloß auf Einhaltung des Arbeitsrechts pocht, für das Unternehmen, das nur will, dass das „Personal (…) seine Pflicht erledigt und kuscht“, untragbar macht. Bei der 39jährigen Esther Weninger-Cordialis, die über Bachsirad dissertiert und „als Kommunikationscoach, (…) Spanisch- und Italienischlehrerin gearbeitet“ hat, ist es weniger die Kuscherei als das eines Nachts auftauchende Bild, „sich unter Asche begraben“ zu sehen, das sie ihre Stelle in einer Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungskanzlei kündigen lässt, was ihr mit zwei Kindern einiges abverlangt. Die drei leben wie in einer „Studentenbude“, was der 14jährigen Tochter sauer aufstößt. Denn während es bei ihren Freundinnen so schön „nach normaler Familie“ aussieht, lagern bei ihr zuhause „Bücherstapel auf dem Esstisch“ und wird mit Vater Sergio ein „Doppelresidenzmodell“ gepflegt. Auch Leonores Freundin Zahra Klaric, die als promovierte Journalistin viel allein unterwegs ist, weiß mit Anfang 40, wie man mit sich ändernden Lebensverhältnissen zurechtkommt. Nicht nur hat ihr Gefährte Max, mit dem sie „acht Jahre lang ein relativ glückliches Paar“ gewesen ist, wegen ihres dauernden Verreisens per iPhone mit ihr Schluss gemacht; auf der Fahrt zur Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, die den „neu entdeckten“ Nachlass von Antoine Bachsirad sichten und bewerten soll und für den sie „den Job gekündigt und ihr Zuhause für ein Dreivierteljahr verlassen“ hat, findet sie weder neu entdeckte Schriften oder Tonaufnahmen, noch eine „Forschungszentrums-Dependance“, sondern bloß „Schafe zwischen Korkeichen weidend“. Das „DesertLotusNest“ aber existiert: als 49 seitiges, „von zahlreichen Topoi der antiken ‚Odyssee‘ wimmelndes (…) und in einem spanischen Literaturmagazin“ 1947 erschienenes, „mystisch mysteriöses, theatralisches“ Langgedicht; sowie als „österreichische Arbeitslosenkursmaßnahme in der südostspanischen Wüste“, die „in Verbindung mit atemberaubend schöner Landschaft (…) Orientierungsgespräche, Potentialanalysen und die Entwicklung realistisch beruflicher Perspektiven“ anbietet: „morgens Schatzsuche, abends Rollenspiel und Wahrnehmungsübungen zur besseren Orientierung“. Und alles „auf Freiwilligenbasis“. Auf Freiwilligenbasis liest man auch gern diesen abwechslungsreichen, mit kleineren tragischen Elementen versehenen, in drei Erzählstränge gegliederten, mit „provisorischen Textproben“, „geschwollenen Reisenotizen“ und Tagebucheinträgen aus „nichts als durchgestrichenen Zeilen“ elegant durchmischten Roman, der über seine niveauvolle Lektüre hinaus auch neugierig macht, ob es in der Wüste von Tabernas tatsächlich „ein Erdbeerfeld“ gibt. Was dieses ideell wie sprachlich überbordende und mit viel Empathie durchzogene Buch auch noch bietet, ist die Erkenntnis, dass das „facettenreiche Durcheinander des Lebens“ es einem nicht leicht macht, „jenes, was man weiß, und jenes, was man will, (…) in vollendete Harmonie“ zu bringen. Wen wundert‘s, wo doch in dieser österreichischen Welt „von vornherein eine einzige Ungerechtigkeit besteht, wer aufgrund welcher Herkunft und welcher sozialer Privilegien wie viele Chancen“ zur Verfügung hat. Dass „ein abgedroschenes Seufzen“ darüber hinwegzutrösten vermag, muss wohl bezweifelt werden.
(Rezension: Andreas Tiefenbacher)
Alexander Höllwerth: Zwischen Begrenzung und Entgrenzung – Zur Funktion des Mythos in Isabella Breiers Roman „DesertLotusNest“
[Der von Beate Sommerfeld herausgegebene Band „Trajektorien der österreichischen Gegenwartsliteratur“ (= Bd. 3 der im Harrassowitz Verlag erscheinenden Reihe Beiträge zu Literatur und Medien der Gegenwart) enthält u. a. einen Beitrag von Alexander Höllwerth mit dem Titel „Zwischen Begrenzung und Entgrenzung. Zur Funktion des Mythos in Isabella Breiers Roman ‚DesertLotusNest‘“.]
https://www.harrassowitz-verlag.de/titel_7214.ahtml
Hörproben
Isabella Breier liest aus DesertLotusNest
Die Autorin liest den Beginn des Romanes