Sieben Blätter und ein Stein
Das Märchen von Märchen
Wei-Ya Lin, Jessica Huijnen
ISBN: 978-3-99028-700-2
22,5 x 24,5 cm, 84 Seiten, zahlr. farb. Abb., Notenbeisp., Hardcover + Beilage: 2 Audio-CDs
24,00 €
Lieferbar
In den Warenkorb
Leseprobe (PDF)
Kurzbeschreibung
Das Konzept und der Inhalt von Sieben Blätter und ein Stein bauen auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts Musik ohne Grenzen auf, das im Rahmen des Programms Sparkling Science vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft gefördert wurde. Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt des Franz Schubert Instituts und des Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Als Kooperationspartner erklärten sich die Neue Mittelschule Kölblgasse und die Volksschule Kleistgasse bereit, mit Klassen, in denen 90% der SchülerInnen Migrationshintergrund haben, an unserer Forschung teilzuhaben. Das Ziel der Produktion dieses Hör- und Liederbuchs ist, die große musikalische und kreative Diversität solcher Schulen offenzulegen. […]
Es ist den SchülerInnen der Volksschule Kleistgasse und der Neuen Mittelschule Kölblgasse, wie auch den Studierenden und den Lehrenden der mdw ein Anliegen, durch innovative und künstlerische Ideen die musikalischen Identitäten der SchülerInnen mit all ihrem Können innerhalb der Schulen zu repräsentieren. Wir sind davon überzeugt, dass ein Hör- und Liederbuch, in dem die Kinder mit der Hilfe von Lehrenden und Studierenden viele der Stücke und Klänge eingespielt und illustriert haben, ein gutes Format bereitstellt, um ein breites Publikum in allen Teilen der Bevölkerung erreichen zu können. […]
(Wei-Ya Lin, „Musik ohne Grenzen“)
[Wei-Ya Lin (Hg.).
Text: Jessica Huijnen.
Ill.: Patricia Huijnen und SchülerInnen der NMS Kölblgasse]
„Eigenklang – Die Sendung des Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie“ vom 24. Mai 2017, Radio ORANGE 94.0, Redakteur: Nikolaus Fennes, zum Buchprojekt „Sieben Blätter und ein Stein“
Rezensionen
Kerstin Kellermann: Trompete für türkische MädchenWie kann in Schulen die Musik von Kindern »mit Migrationshintergrund« aufgenommen werden und in etwas Neues, Gemeinsames hineinwachsen?
Blasinstrument-Klänge. Im Hintergrund zwei Hornbläser. Davor ein kleines Mädchen mit Trompete, das nicht hinweg geweht wird von den Hörnern, denn der Luftstrom geht nach hinten hinaus. Daneben weitere Mädchen und Jungen mit Trompeten, Hörnern und einer Posaune. Aber muss die Melodie für dieses unkonventionelle Blasorchester unbedingt »Hänschen klein« sein? Das Lied war sicher dem allgemeinen Bekanntheitsgrad geschuldet.
In dem EU-Projekt namens »Sparkling Science – Musik ohne Grenzen« lernten Kindern »mit migratorischem Hintergrund« aus einer Wiener Volksschule bzw. Mittelschule in acht Monaten ein Musikinstrument. Posaune! Klarinette! Cajon! Es entstand das Hör- und Liederbuch »Sieben Blätter und ein Stein«, dessen Ziel es war, »die große musikalische und kreative Diversität solcher Schulen offenzulegen«, wie Herausgeberin Wei-Ya Lin im Nachwort schreibt: »Obwohl die Wiener Gesellschaft nach mehreren Einwanderungswellen längst multikulturell geworden ist, sind das Bildungssystem und die betreffende Gesetzgebung noch lange nicht darauf vorbereitet. In den Schulen entsteht dadurch eine Lücke …«
Multikulti, transkulti, national?
Vor Jahren war ich einmal für das »transkulturelle« Musikprojekt MELT der Europäischen Union nach Genua eingeladen. Dutzende MusikerInnen verschiedenster Herkunft versuchten über Tage, in einer alten, leerstehenden Kirche »transkulturelle Elemente« in der Musik zu dekonstruieren. Beim Schlusskonzert am Hafen wurde dann ein Potpourri nationaler Musikelemente vorgeführt, von denen jedem Zuhörer Teile bekannt vorkamen und zu denen er oder sie das Tanzbein schwingen konnte. Als zweites Stück entstand ein esoterisches, äußerst sphärisches Musikwerk, das wohl der Location in der ehemaligen Kirche geschuldet war.
Es ist also schwierig, »multikulturelle« Elemente zu finden und zu isolieren. Im Kinderhörbuch »Sieben Blätter und ein Stein« umging Autorin Jessica Huijnen diese Schwierigkeit, indem sie Teile von Märchen aus verschiedenen sozialen Kulturen aufnahm, sozusagen »klaute«. Aus diesen fremden Märchen baute sie ihre eigene fröhliche Geschichte, »Das Märchen von Märchen«, in dem Kinder aus vorgegebenen, sie einschränkenden Situationen verschwinden und flüchten. »Es war einmal, keinmal – in ferner Zeit, ihr fröhlichen Leut. Erzählen wir, schlafen wir fein? Darf es von beidem gleichzeitig sein?« Ihre Schwester, die Bildhauerin Patricia Huijnen, verwendete Zeichnungen der Schulkinder und setzte sie vor Fotos – Dreidimensionalität und neue Perspektiven entstanden.
»Es gibt viele Musiksprachen«, heißt es beim Konzert. Ein brüllendes Baby wird hinausgetragen. Eine Ameise läuft vorbei. Die Kinder toben im Hof der Universität für Musik und darstellende Kunst herum. Transkulturelle Spiele: Verstecken und Fangen. Versteht jeder. »Benachteiligte Familien können es sich nicht leisten, ein Kind ein Instrument lernen zu lassen. Ein Kind sollte eine Arbeitshaltung haben, um ein Instrument zu lernen«, sagt eine Schuldirektorin. Eine Arbeitshaltung? In der Volksschule? Vier Mädchen spielen »Bandroom Boogie« auf dem Horn. Ein Wahnsinn. Die Kinder durften die teuren Instrumente behalten. Das nächste Baby schreit und wird hinausgetragen – die wollen auch etwas Geräuschvolles beitragen.
Verstummen und davonlaufen
Die Kinder durften ihre Lieblingsmusikstücke auf dem Smartphone mitbringen, obwohl sonst in der Schule Handyverbot herrscht. Das taugt ihnen. Die erste CD des Hörbuchs beginnt so: »Das Lied habe ich von meiner Mutter gehört. Und die wahrscheinlich von ihrer Mutter.« Schönes Gesinge. Herkunft undefinierbar. Eventuell indisch? »Manche Kinder verstummen schon im Kindergarten«, erzählt eine Sprachpädagogin und berichtet, wie schwierig es sei, Kinder wieder aus diesem Schweigen herauszuholen. Die Kinder fliehen in eine Fantasiewelt.
Die Musikstücke im Bilder- und Hörbuch sind alle mit Noten angeführt, wie »Das Kamel auf Reisen«. Klingt lustig: »Total freak out. Kamel sieht dem Tod ins Auge. Bei diesen zwölf Takten sollte es immer mehr durcheinandergehen, bis schlussendlich kamelähnliche Todesschreie erklingen – Bariton, eventuell Spektraltöne, alle eventuell Multiphonics, Quietscher etc.« Dann taucht aber eine musikalische Oase auf: »Kamel ist glücklich (Brautchor aus Lohengrin erklingt stark variiert). Kamel läuft davon.« Kann man nachspielen, wenn man es kann. Der Popsong »Roots« der Band Matatu könnte sich wirklich zum Hit oder zur »Migrationshymne« entwickeln, wenn er auf YouTube stehen würde.
Am Schluss des Konzertes spielt eine Runde Mädchen und Jungen mit Plastikstäben, die Boomwhackers genannt werden, auf Stühlen. Das Publikum klatscht mit. »Wir sind für immer da. Doing, doing, doing.«
(Kerstin Kellermann, Rezension in: Skug. Journal für Musik, 5. Mai 2017)
https://skug.at/trompete-fuer-tuerkische-maedchen/
Isolde Malmberg: [Rezension zu: Wei-Ya Lin (Hg.), „Sieben Blätter und ein Stein“]
Ein Bilder- und Hörbuch für Kinder und Erwachsene? Ein ungewöhnliches Forschungsprodukt? Oder eine Sammlung musikalischer Reisedokumente? Wei-Ya Lins Sieben Blätter und ein Stein lässt sich nur schwer einer Publikationsform zuordnen oder gar einer ganz bestimmten Zielgruppe ans Herz legen. Das Buch versucht einen weiten Spagat – und schafft ihn. Bei längerer Betrachtung erscheint es der Rezensentin geradezu zwingend, bei der Sache, um die es geht, auch ein entsprechend hybrides Format anzubieten: Eine Art literarisch-wissenschaftlich-ethnomusikologisch-bildstarker Mischling liegt uns vor.
Die Sache: Transkulturalität, genauer: Lebens- und Musikwelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Wiens drittem Bezirk. Wei-Ya Lin und Hande Saglam haben mit den SchülerInnen der Volksschule Kleistgasse und der Neuen Mittelschule Kölblgasse ein partizipatives Schulforschungsprojekt durchgeführt, in dem sich die jungen Menschen mit Musiken ihrer Herkunftsfamilien beschäftigten. Die Musiken wurden gemeinsam mit Studierenden der Instrumentalmusikpädagogik „gehoben“ und auf vielfältige Weisen zum Thema gemacht. Solche partizipativen Forschungsformate suchen immer auch nach Formaten der Ergebnispräsentation, die alle Mitforschenden einbeziehen, ansprechen und zu AkteurInnen machen.
Das (Hör-)Buch: Vor uns liegt folgerichtig ein Buch, in dem – wie Wei-Ya Lin in ihrem Nachwort ausführt – „(j)eder Schüler und jede Schülerin (…) eine der sieben Hauptfiguren der Geschichte Sieben Blätter und ein Stein sein (könnte)“. Es ist ein Buch mit großer Nähe zu Michael Endes fantastischem Bildungsroman Die unendliche Geschichte (in dem Bastian Balthasar Bux zwischen Schule und Fantasiewelt seine Reifung erlebt, so wie im vorliegenden Buch die sieben Hauptfiguren). Dieses Buch speist seine Stoffe aus vielerlei Märchenquellen (Das Märchen von Märchen), es gießt die Herkunftssprachen der Kinder in Harry-Potter-Manier gekonnt in Zaubersprüche, um böse Drachen zu vernichten, und enthält zur Illustration Zeichnungen der am Projekt mitwirkenden Kinder. Nicht zuletzt bietet das Buch auch gleich seine eigene Hörbuchversion an sowie alle Noten der vorkommenden Musikstücke mit Hintergrundinformationen und Denkanstößen für die LeserInnen.
Die Musikstücke: Als größten Schatz in Sieben Blätter und ein Stein würde ich jedoch die Musikstücke bezeichnen. Wer Kinder hat, wird die mit immenser musikalischer wie ethnomusikologischer Sorgfalt produzierten Musikstücke aus dem Balkan und der arabischen Region zu schätzen wissen. Selten genug finden sich solche Preziosen in Kinder- und Jugendbüchern. Musikstücke, die unsere Ohren für die Herkunftsmusik und transkulturell vermischte Musik junger WienerInnen zu öffnen vermögen!
A picture and audio book for children and adults? An unusual product of research? Or a collection of musical travel documents? Wei-Ya Lin’s Sieben Blätter und ein Stein [Seven Pieces of Paper and a Stone] is difficult to attribute to a single publication platform or even to recommend to a certain audience. This book attempts something that amounts to a huge stretch—and succeeds. What we have before us would appear to be some sort of literary-scholarly-ethnomusicological-visual mixture, and upon further reflection, this reviewer finds that it was in fact almost mandatory that a commensurately hybrid format be chosen for the subject matter at hand.
The subject matter is transculturality, or to be more precise: the living environments and musical worlds of children and adolescents with migratory backgrounds in Vienna’s third district. Together with students of the Kleistgasse primary school and the “new intermediate school” on Kölblgasse, Wei-Ya Lin and Hande Saglam conducted a participative research project in which young people dealt with the musics of the families from which they come. These musics were given a close look together with instrumental music education students and then worked with in a wide variety of ways. One of the things that these kinds of participative research formats always try to do is to search for new ways of presenting their results that draw on, address, and actively involve all participants.
The (audio) book: one of these outcomes is a book in which—as Wei-Ya Lin explains in her afterword—“every student … [had the opportunity] to be one of the seven main characters in the story Sieben Blätter und ein Stein”. Its plot is situated in close proximity to Michael Ende’s fantastical coming-of-age novel The Neverending Story (in which Bastian Balthasar Bux, alternating between school and his fantasy world, grows more mature—as do the seven main characters in the present story). It is also a book that draws on all manner of fairy tale sources for its material (hence the subtitle Das Märchen von Märchen [The Fairy Tale of the Fairy Tale]), which moulds the children’s mother tongues from back home—in the manner of Harry Potter—into magic words capable of destroying evil dragons, and which is illustrated with drawings by the children who participated. Last but not least, this book comes with its own audio book version, as well as with sheet music for all of the included pieces of music, background information, and other things for its readers to ponder.
The music: I would call the included music the greatest treasure to be found in Sieben Blätter und ein Stein. Anyone who has children will certainly value these pieces from the Balkans and from the Arab world, which have been rendered with enormous musical and ethnomusicological care. It is quite rare to find such precision in books for children and adolescents, and these pieces of music are capable of opening our ears to the native and transculturally mixed musics of young Viennese people.
(Isolde Malmberg, Rezension | review in: mdw-Magazin, 29. September 2017)
https://www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2017/09/29/rezension-sieben-blaetter-und-ein-stein/