Stadtschrift
Fotos und Texte
Bodo Hell
edition seidengasse: Bibliothek Urbaner KulturISBN: 978-3-99028-185-7
21,5×15 cm, 304 Seiten, ca. 300 meist farb. Abb., Hardcover
24,00 €
Momentan nicht lieferbar
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Kurzbeschreibung
Bodo Hell dokumentiert die Schriftzüge der Stadt, die Zeichen- und die Leitsysteme, mit denen BürgerInnen durch die öffentlichen und halböffentlichen Räume geschleust werden. Stadtschrift zeigt, wie Produkte, Konsumartikel und Dienstleistungen beworben werden, welche Gedankenverbindungen und Assoziationen in jeder kulturellen Situation bestehen. Bodo Hells Stadtschrift zeigt das Komische im ernst Gemeinten, das Ernste in dem, was als Spaß intendiert war.
zum Betrachten der 3-D-Bilder mit freiem Auge (ohne Linsengerät) bitte die Bildmitte (und also hier die Buchmitte) von der Nasenspitze aus langsam in den Raum hinein bewegen, ohne das Dargestellte zu fokussieren (durchs Foto hindurch in die Ferne blicken!): in mittlerem Abstand springt das Motiv dann in die plastische Anschaulichkeit
als Glücksfall könnte man sich (bei derart geschärfter Imaginationskraft) einen vergleichbaren Effekt auch mittels intensiver Textlektüre erreichbar vorstellen, und das wäre noch nicht alles
[edition seidengasse · Bibliothek urbaner Kultur, Band 5 |
Gegründet und hrsg. von Hubert Christian Ehalt]
GRUNDBÜCHER der österreichischen Literatur seit 1945, 71. Grundbuch: BODO HELL: STADTSCHRIFT (edition neue texte, 1983/Bibliothek der Provinz, 2015). Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 (Hg. K. Kastberger, K. Neumann), Dritte Lieferung (profile 26, Zsolnay, 2019)
[Video: Aufzeichnung der Wiener Vorlesung „Bodo Hell – Stadtschrift. Fotos und Texte“ vom 9. Dezember 2015, Video produziert von GetTo!]
Rezensionen
profil: Details, en grosWien ist anders, als man denkt – wenn man genauer hinschaut. Mit dem Bild- und Textband „Stadtschrift“ versucht der tollkühne Autor, Performer und Genauschauer Bodo Hell einen zweiten Blick, der sich zugleich auf und hinter die Fassaden des Urbanen richtet: Mit assoziativer Treffsicherheit kompiliert er Fotografien von Werbetafeln, Schildern, Aufschriften, Plakaten und Graffiti zu entrückten Kompositionen, die wie Kippbilder funktionieren und Geheimnisse verkünden, wo vielleicht gar keine sind. Dazu stellt Hell in dem Band, der soeben im Verlag Bibliothek der Provinz beziehungsweise in deren „Bibliothek urbaner Kulturen“ erschienen ist, experimentelle 3D-Bilder sowie Texte aus der Stadt, etwa aus der Buslinie 13A oder der Konditoreikette Aida, die den Botschaften nachspüren, die der städtische Alltag unablässig aussendet. Poesie in progress.
(Rezension im Profil Nr. 45, 46. Jg., 2. November 2015, S. 65)
Hermann Schlösser: Hell-wache Prosa
Die einzige Konstante im großstädtischen Leben ist die permanente Veränderung. Das gilt auch für die Stadt, die sich so gerne mit dem Slogan „Wien bleibt Wien“ schmückt. Wo früher die „Wiener Zeitung“ redigiert wurde, ist heute ein Tageszentrum der „Caritas“, und wo die Zeitung heute hergestellt wird, wurden einstmals Rinder geschlachtet.
Zu den aufmerksamsten Beobachtern dieser Dauer-Umgestaltung gehört der Schriftsteller Bodo Hell. Immer wieder wandert er durch die Stadt und fotografiert Firmenschilder, die es schon wenige Jahre später nicht mehr gibt. 1983 fuhr er mit dem (Doppeldecker)-Bus 13 A aus dem Alsergund an den Südbahnhof und schrieb darüber das Fahrtprotokoll „Linie 13A“. 2002 wiederholte er die Tour (im einstöckigen Bus) und notierte im Text „13A revisited“, was sich in der Zwischenzeit verändert hat, was nicht.
Diese und viele andere Wien-Texte und -Bilder sind nun in der stark erweiterten Neuauflage des 1983 erstmals erschienenen Buches „Stadtschrift“ versammelt. Darin findet man vieles Verschwundene wieder und entdeckt manches Neue. Und der geschwinde, sozusagen hell-wache Notizenstil des Autors schärft das Bewusstsein dafür, dass auch in Wien nix fix ist.
(Hermann Schlösser, Rezension in der Wiener Zeitung vom 5. Dezember 2015, S. 42)
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/789610_Hell-wache-Prosa.html
Martin Kubaczek: [Rezension]
Es sind verschmitzte und witzige Paradoxien und Widersprüche, Hinweise auf die kleinen Absurditäten des Alltags und seiner Selbstinszenierungen, die der eifrige Stadtwanderer Bodo Hell aufgreift. Was ihm auffällt, sind offensichtliche Bizarrerien und versteckte Hinweise, Relikte aus der Weltkriegszeit (etwa Pfeilmarkierungen zum Luftschutzkeller), cyrillische Aufschriften aus der sowjetischen Besatzungszone, ein Ladenschild eines vermutlich enteigneten jüdischen Optikers, Reklame und Graffiti aus dem danach aufblühenden Konsumzeitalter. Diese Zeichen und Hinweise mit ihrer Tiefengeschichte choreografiert Hell in Vierergruppen auf Doppelseiten, und daraus ergeben sich Intervalle, Spannungsverhältnisse. Manches hat sprachspielerischen Charakter, anderes ist witzig (im Sinn von Fürwitz: vifer, rascher Verstand) und trägt immer auch eine Art Vanitas in sich: Viele dieser Ladenschilder, deren Schriftzüge zum Material einer assoziativen Sprach-Assemblage werden, preisen Dinge an, die es nicht mehr gibt, Menschen, die nicht mehr vorübergehen.
Es wird also eine andere Stadt sichtbar, eine der unsichtbaren Städte, die hintergründig durch die gegenwärtige schimmern. Epochenspezifische Wünsche, Bedürfnisse, Angebote einer Epoche mit ihren Peripherien und Zentren, Achsen und Linien ziehen sich durch, verlangen nach Interpretation und Deutung. Viele dieser Zeichen sind appellativ, sind Exklamationen, Verweise und Versprechungen, die auf eine Bedürfnis- und Sehnsuchtsstruktur verweisen. Darin liegt das Vergängliche und das, was Texte wie Bildstrecken in diesem Band gleichermaßen ausmacht: Die Recherche eines Feldforschers, sein Tüfteln und Observieren, Mithören und Aufschnappen, die schnelle Reaktion des Festhaltens in Wort und Bild. Dieses Material wird selektiert, verdichtet, bewusst akausal angeordnet, es läuft entlang einer Erzählstrecke, kreist um ein Thema, kann Begehung sein, Routen folgen, ist voll von Anspielungen auf Mythologie und peripheres Wissen, setzt grundlegende Kenntnisse voraus im quirlenden Spiel ihrer assoziativen Vernetzung.
Ein Beispiel: Was als „Radau“ auf dem Cover beginnt, endet mit „Glück im Tank“ am Rückumschlag. In beiden Fällen spricht der Autor durch ein Bild, hier mit Fotografien von Schriften, Zeichen, Worten, Namen: „Radau“ ist Ortsname, Hinweisschild einer Autobahnausfahrt auf der A1, kommend aus Salzburg (woher der Autor stammt), mit Pfeil Richtung Wien (dem Thema des Buches). Rad hat natürlich mit Fahrt zu tun, Radau ist sowohl das Tosen des Verkehrs, verspricht aber auch einen gewissen Aufruhr im Buch, kündigt damit schon die Fülle der Signale, Hinweise, die Stimmenvielfalt der Stadt an. Das Buch schließt mit dem fotografierten Fingerzeig auf den Tankdeckel eines VW-Käfers mit dem japanischen Schriftzeichen für Glück: hab Glück im Tank, so ließe sich das lesen, sei glücklich getankt.
Dazwischen aber findet sich von „Alpha“ bis „Omega“ (zwei Ladenschilder-Fotografien) Literatur als Zitat visueller Wahrnehmungen. Hier erstellt sich eine Lesbarkeit der Welt, die diachron und synchron, horizontal und vertikal durch Raum und Zeit geht, eine Archäologie der Schriften, Typen, Zeichen, Designs, Farben und Formen, die Hell aus dem Kontext löst, indem er auf den Prätext verweist, mit Subtexten spielt und sich seinerseits in einen Ryhthmus der Gestaltung begibt: Da finden sich Jamben und Daktylen, Dreiergruppen, Doppelungen, Echostrukturen, Schnitttechniken und Montagen, schlaue und kokette, dann aber wieder hintergründige Verweise, die aus dem Material seiner sprachlichen Objets trouvés eine Bricollage in weit ausgreifenden Bögen einer emanzipativen Sinnsuche erstellt.
In den Texten folgt Hell dabei peripheren Linien wie dem Wienfluß von seinen Quellen bis zur Urania, legendär ist seine Bildgeschichte aus dem Oberstock der Buslinie 13A, aber auch die zuckelnde Straßenbahnlinie 5 mit ihren seltsamen Ausgangs- und Endpunkten kann Textlinie werden, oder es sind thematische Zentren der Observation und des Überblicks, wie jene aus der Türmerstube von St.Stephan (Adalbert Stifter ist hier Referenz) oder die Imitation einer „Rede unterm Himmel“ von einer Außenkanzel an der Rückseite des Doms; genial, wie hier der medial vermarktete Stratosphärensprung eines Stuntmans mit Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ gegengeschnitten wird, wie der Text immer wieder auch mythologisch deutet und Prototypen erkennbar macht, vom Prometheus-Mythos bis zu Ikarus, vom Göttersturz bis zum verstoßenen Luzifer, wenn ein Mensch dorthin zurückstürzt, von wo er hergekommen ist.
„Stadtschrift“ umfasst 14 Texte und drei Bildstrecken aus drei Jahrzehnten, weitgehend chronologisch geordnet erfassen sie Markierungen einer städtischen Nachkriegs-Identität. Dass dieses Buch in einer „Bibliothek urbaner Kultur“ im „Verlag der Provinz“ erscheint, passt zusätzlich. Gerahmt ist dieser Band durch ein Vorwort und einen nachgestellten Apparat mit Bilderklärungen, Textnachweisen, Bio-Bibliografie, Namensregister: ein Hand- und Lesebuch zur Ikonografie der Stadt mit den Wort- und Bildtexten des so akribischen wie umtriebigen Rechercheurs und Connaisseurs des peripheren wie des tangentialen Wissens.
(Martin Kubaczek, Rezension im Buchmagazin des Literaturhaus Wien, veröffentlicht am 8. Februar 2016)
https://www.literaturhaus-wien.at/review/stadtschrift/
Zsuzsanna Gahse: Das richtige Erzähltempo
Der österreichische Autor Bodo Hell legt seine „Stadtschrift“ vor und gewährt seinen Lesern ein intensives Erlebnis
Mit Bodo Hell im Stephansdom, im Steffl durch die „Schraubungen der Wendeltreppe“ zur Spitze des Südturmes hinaufzusteigen, ist ein intensives Stadterlebnis. Wenn man die „Stadtschrift“ dieses Beobachter-Dichters liest, meint man mit dabei zu sein. Schließlich wird man oben im Turm nicht nur einen Blick auf Wien erleben, sondern auch auf die Vergangenheit der Stadt, sogar auf unterschiedliche Vergangenheiten, man gewinnt eine zeitliche und eine räumliche Orientierung. Bei dem Rundblick vom Turm aus kann man sich sogar als die Mitte der Stadt empfinden. So sei es einst Stifter ergangen, kurz habe er gemeint, selbst die Mitte zu sein, und auch diese Anmerkung steht in Bodo Hells Turmbeschreibung.
Man kann mit den Hell'schen Texten sein Wunder erleben, auch wenn es um die Buslinie 13A geht, die quer durch Wien führt. Der Leser fährt auch in diesem Fall mit, spürt den temporeichen Wechsel der Umgebung, begegnet für Sekunden einer Mutter mit Kind, hinter den beiden taucht ein Zeuge Jehovas auf, und gleich darauf folgt die Mikrofonansage für die nächsten Umsteigemöglichkeiten. Das sind RealTimeErfahrungen (so schreibt Hell zusammengesetzte Hauptwörter), und das ErzählTempo ist identisch mit den realen Erfahrungen in einer heutigen Großstadt.
Bodo Hell, in Salzburg geboren, lebt in Wien, und er ist nicht nur ein „faktenorientierter“ Autor, wie er sich selbst bezeichnet, er ist ein Autor mit Esprit, mit Gespür für packende neue Erzählweisen, zudem ist er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Fotograf. In „Stadtschrift“ sind Hunderte seiner Fotografien abgedruckt, und bei diesen Bildern geht es tatsächlich um Schriftzüge, die er in der Stadt vorgefunden hat, um Firmenschilder, Werbungsschriften, Straßenschilder. Witzig und einmalig sind auch Bodo Hells 3-D-Bilder, die man dreidimensional betrachten kann.
Mit ihrem Faktenreichtum sind diese Texte und Fotos in jeder Hinsicht ein Gewinn. Hinzufügen muss man noch, dass Bodo Hell im November und Dezember Stipendiat des Bodmanhauses in Gottlieben (Thurgau) war.
(Zsuzsanna Gahse, Rezension im Südkurier vom 12. Februar 2016)
https://www.suedkurier.de/ueberregional/kultur/Das-richtige-Erzaehltempo;art10399,8514893
Elisabeth Schabus-Kant: [Rezension]
Bodo Hell dokumentiert, ja archiviert geradezu die Schriften der Stadt: Aufschriften, Inschriften, Aufkleber, Schilder, Straßentafeln, Werbungen, Geschäftsportale, Schablonen-Graffiti. Im Wesentlichen sind die ca. 300 Bilder Fotos von Fundstücken aus Wien.
Bodo Hell gruppiert seine Fotos nach unterschiedlichen Gesichtspunkten: nach der Schriftart, nach dem Inhalt, nach zufälligen skurrilen Kontexten auf Hausfassaden u. a.: vier Geschäftsaufschriften aus jeweils vier Buchstaben in unterschiedlicher Blockschrift »ALWA«, »BIPA«, »SOWA«, »ZIKA« (S. 40). Das Foto der Modekette »Johann Strauss« platziert er neben der Geschäftsaufschrift »Eisenstein« (Protagonist in der Strauss-Operette Die Fledermaus) (S. 21). Die »Fleischerei Stierschneider« (S. 213) spricht für sich selbst. Das schon ziemlich patinierte dreizeilige Schild RECHTSANWALTSKANZLEI 1. STOCK RECHTS amüsiert durch die Anordnung von »RECHTS« links oben und rechts unten (S. 238). Manches erschließt sich erst beim wiederholten Ansehen, für manches braucht man Lokalkenntnisse wie bei der Fahrschule MEIDLING, die das L im Firmennamen blau hervorhebt, um in origineller Form auf das L-Schild für Übungsfahrten hinzuweisen. Bodo Hell hingegen scheint dieses L an das sogenannte »Meidlinger L« zu erinnern, das monolateral gesprochen wird und mit den Bewohner_innen der sogenannten Arbeiterbezirke assoziiert wird (S. 183). Augenzwinkernd hat er sich auch selbst auf die Schaufel genommen mit dem Wirtshausschild »Blunzenstricker« in der Hellgasse (S. 210).
Dieses Buch ist in einer früheren Fassung zugleich auch das 71. Grundbuch der GRUNDBÜCHER der österreichischen Literatur seit 1945 (Hg. Klaus Kastberger und Kurt Neumann, 1983). Es versammelt 14 Texte über Wien, die zum Beispiel den Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wie die mit dem legendären Stockautobus der Linie 13A, folgen und Fahrgastdialoge mit optischen Eindrücken entlang der Strecke sowie Durchsagen des Fahrers verweben, damit vordergründig unterhalten und informieren, dahinter jedoch fast philosophisch, auf jeden Fall nicht unkritisch Gegenwart und Vergangenheit kommentieren. Diese Texte sind in Länge und Inhalt sehr untersc hiedlich. In allen steckt gründliche (historische) Recherche, aktueller Lokalaugenschein, die Hell-typische Sprachkraft, die ein ziemliches Tempo entstehen lässt, dessen Dynamik auch beim Lesen deutlich zu erleben ist. Noch eindringlicher werden die Texte, wenn der Performance-Künstler Hell sie selbst im raschen Vortrag präsentiert und das Publikum atemlos zuhört und zuschaut.
Für den Deutschunterricht bietet sich dieses Buch den Lehrkräften wie den Schülern und Schülerinnen als Ideengeber und Inspiration für eigene Wege durch die Hauptstadt, durch den Heimatort oder durch eine neu zu entdeckende Gegend an. Diese Stadtschrift öffnet die Augen und schärft den Blick und lädt auch zum Querdenken ein.
Bodo Hell, geboren in Salzburg, lebt in Wien und im Waldviertel und ist im Sommer Hirte auf einer Alm am Dachstein/Steiermark. Typisch für ihn sind seine zahlreichen Kooperationen mit Kunstschaffenden aus vielen anderen Sparten. Er wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet, so auch 2019 mit dem Großen Kunstpreis des Landes Salzburg.
(Elisabeth Schabus-Kant, Rezension in ide. informationen zur deutschdidaktik, 44. Jahrgang, Heft 1, 2020, S. 128 f.)
https://ide.aau.at/2020-0/heft-1-2020/
Weitere Bücher des Autor*s im Verlag:
Admont Abscondita
Frost: relaunched
Gang durchs Dorf
Kunstschrift
Matri Mitram
ÖTZI 1991991